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An Felice Bauer

vom 23. Zum. 24. II. 13
 


Zuerst, Liebste, um es nicht immer wieder zu verschieben (es hat Dir vielleicht schon Sorgen gemacht), schicke ich Dir das Bild Deines Nichtchens zurück. Ja, dieses Kindchen verdient geliebt zu werden. Dieser ängstliche Blick, wie wenn man dort im Atelier alle Schrecken der Erde gezeigt hätte! Und dabei hält sie doch die Hände an der Lehne und an der Hüfte, gerade infolge ihrer Selbstvergessenheit, wie eine große Dame. Und ich wage sogar den Widerspruch zu meinem Nachmittagsbrief und behaupte, dass ich die kleine Wilma, wie sie da auf ihrem Polster sitzt, lieb habe. (Wer kann freilich sagen, ob nicht bloß Deinetwegen?) Hast Du in Deinem Medaillon ein anderes Bild? Und könnte ich auch das noch sehn?

Der Brief Deiner Schwester hat mich sehr unterhalten, ich möchte fast sagen, er hat mich - verstehe mich recht - erschüttert. Nicht, weil sie sich ganz dem Kind unterordnet, sie tut es in keiner besonders charakteristischen Art - sondern weil sich darin eine so offene Natur förmlich in einem Schwall, in einer nicht zu erfindenden Menge kleiner zusammenpassender und vor allem ganz gleichförmiger Details darstellt. Die Bemerkungen über die Geschwister die Aufzählung der Geschenke - die Aufzählung der Zollspesen. Liebste, bitte versteh mich recht, es hat nichts mit der selbstverständlichen Achtung, ja Ehrerbietung zu tun, die ich vor Deiner Schwester habe, wenn ich solche Bemerkungen mache. Eben dort, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist, ergreift es mich immer. Ich denke daran, wie ich vorgestern abend, mit meinem Unglück übergenug beschäftigt, knapp vor mir aus einem Haustor einen Bekannten, den Besitzer oder vielmehr den Sohn des Besitzers einer jüdischen Buchhandlung treten sah. Er dürfte wohl schon 40 Jahre alt sein, einmal vor Jahren war er verlobt, mit einem großen, starken Mädchen, die Verlobung ging dann zurück, da er nicht genug Geld bekam. Später, auch schon vor vielen Jahren, heiratete er eine zarte, sehr bewegliche Frau. Ich erinnere mich, wie sie bei uns in unserer früheren Wohnung zu Besuch waren und wie diese Frau so sonderbare abgehackte Reden führte. Es scheint mir jetzt fast, als hätte sie auch am hellen Tag eine Schleppe gehabt und diese Schleppe mit dem Fuß immer zur Seite geworfen. Diese Frau wurde nach wenigen Wochen verrückt - man sagte, der Mann oder vielmehr die Eltern des Mannes hätten es zum großen Teil verschuldet -kam ins Irrenhaus, die Ehe wurde geschieden und der Mann mußte (zur besondern Befriedigung meines Vaters, der die Ereignisse in dieser Familie mit Anteilnahme und nicht ohne Schadenfreude verfolgte) die Mitgift zum großen Teil wieder herausgeben, so sehr er sich wehrte. Der Mann war also wieder frei, heiratete aber nicht mehr, wahrscheinlich verlangten es seine Eltern, denen er immer grenzenlos ergeben war, nicht mehr. Er war niemals selbständig, sondern sitzt, seitdem er die Schule verlassen hat, also ein kleines Menschenalter, in dem winzigen Geschäft, in dem kaum für einen Menschen Arbeit ist, staubt mit Hilfe eines Dieners die ausgehängten Gebettücher ab, steht bei warmem Wetter in der offenen Ladentür (früher wechselte er darin mit seinen Eltern ab, die jetzt meist krank sind), wenn es kalt ist, steht er hinter der mit Büchern besteckten Tür und schaut durch die Lücken zwischen diesen meist unanständigen Büchern auf die Gasse hinaus. Er fühlt sich als Deutscher, ist Mitglied des hiesigen deutschen Casinos, einer zwar allgemeinen, aber unter den hiesigen Deutschen doch vornehmsten Vereinigung, und geht nun wahrscheinlich jeden Abend, nachdem das Geschäft geschlossen ist und er genachtmahlt hat, in das "Deutsche Haus". So war es auch vorgestern abend, als ich ihn zufällig beim Verlassen seines Hauses erblickte. Er ging vor mir her, wie der junge Mann, als den ich ihrs eben immer noch in der Erinnerung habe. Sein Rücken ist auffallend breit, er geht so eigentümlich stramm, dass man nicht weiß, ob er stramm oder verwachsen ist; jedenfalls ist er sehr knochig und hat z.B. einen mächtigen Unterkiefer. Begreifst Du nun, Liebste, kannst Du es begreifen (sag es mir! ), warum ich diesen Mann geradezu lüstern durch die Zehnergasse folgte, hinter ihm auf den Graben einbog und mit unendlichem Genuß ihn im Tor des "Deutschen Hauses" verschwinden sah?

Es ist spät, Du hast eine Wendung, Felice, die Du gar nicht brauchst, gib sie mir und laß mich schreiben: "Behalt mich lieb!"

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at