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An Felice Bauer
Liebste, es ist schon wieder so spät und eigentlich war ich wieder
daran schuld (rascher Feder! dass ich Felice, meiner Felice, ganz
nahe komme nach dieser langen Zeit), aber ich konnte nicht anders. Ich
kam gebrochen vom Spaziergang nachhause, ich war so gelockert in meiner
Haut, dass mich nur irgend jemand hätte schütteln müssen
und ich hätte mich ganz verloren. Ich las also meiner Schwester (meine
Eltern waren heute bei Verwandten in Kolin und kamen erst jetzt, auch die
Begrüßung hat mich aufgehalten) etwas aus meiner
guten Zeit vor, vielleicht das Beste, was ich gemacht habe, sie kannte
es noch nicht, es stammt, glaube ich, aus der Zeit, als ich auf Deinen
zweiten Brief wartete. Ich bin ganz heiß vom Lesen geworden und wenn
ich nachmittag mich nicht auf den Landstraßen herumgetrieben hätte,
wer weiß, ich setzte mich vielleicht zum Schreiben nieder und schriebe
etwas Ordentliches, das mich aus der Vertiefung, in die ich merklich versinke,
mit einem Mal in die Höhe reißen könnte. So aber werde
ich nichts dergleichen tun, sondern schlafen gehn, so wie ich bin, und
gewiß noch lange nichts schreiben und mir, Dir und der Welt eine
Plage sein.
Gestern abend habe ich Dir nicht geschrieben, weil es über Michael
Kohlhaas zu spät geworden ist (kennst Du ihn? Wenn nicht, dann
lies ihn nicht! Ich werde Dir ihn vorlesen!), den ich bis auf einen
kleinen Teil, den ich schon vorgestern gelesen hatte, in einem Zug gelesen
habe. Wohl schon zum zehnten Male. Das ist eine Geschichte, die ich mit
wirklicher Gottesfurcht lese, ein Staunen faßt mich über das
andere, wäre nicht der schwächere, teilweise grob hinuntergeschriebene
Schluß, es wäre etwas Vollkommenes, jenes Vollkommene, von dem
ich gern behaupte, dass es nicht existiert. (Ich meine nämlich,
selbst jedes höchste Literaturwerk hat ein Schwänzchen der Menschlichkeit,
welches, wenn man will und ein Auge dafür hat, leicht zu zappeln anfängt
und die Erhabenheit und Gottähnlichkeit des Ganzen stört.)
Liebste, sag warum liebst Du gerade einen so unglücklichen, mit seinem
Unglück auf die Dauer gewiß ansteckenden Jungen? Ich ging heute
auf dem Ausflug mit einem vernünftigen Mädchen, das brav ist
und das ich seit jeher gut leiden kann. Wie klagte sie mir aber (ich komme
1 mal im ¼ Jahr mit ihr zusammen) über ihre Lage, mir wurde
ganz übel. Aber als wir dann alle bei Tische waren und ein lustiger
Junge sie zu necken anfing, war sie so schlagfertig, wie man nur wünschen
konnte, und besiegte ihn. Ich muß einen Dunstkreis von Unglück
mit mir führen. Aber nicht Angst haben, Liebste, und bei mir bleiben!
Ganz nahe bei mir!
Franz
etwas aus meiner guten Zeit : Wahrscheinlich "Der
Heizer", das erste Kapitel des Amerika-Romans Der Verschollene.
Michael Kohlhaas: Mitte Dezember 1913 las Kafka
in der Prager Toynbeehalle aus Kleists Michael Kohlhaas öffentlich
vor. Vgl. Tagebücher (11. Dezember 1913), S. 341.
Letzte Änderung: 4.5.2016 werner.haas@univie.ac.at