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An Felice Bauer
Liebste, es ist doch ein unglaublich schöner Spaß, zuhause noch
einen Brief von Dir zu finden. Wenn er nur nicht durch den Gedanken verbittert
wäre, dass ich in dem Brief Deine mißbrauchte Spaziergangszeit
in Händen habe, dass ferner, wenn es erlaubt ist, zweimal zu
schreiben, kein Grund zu finden ist, warum wir einander nicht immerfort
schreiben und näher zusammenrücken sollten um Himmels willen,
bis wir ganz beieinander wären, der eine in des andern Armen. Aber
das geschieht ja nicht und so reißt es nur an einem. Endlich bleibt
die Angst, dass den nächsten Tag vielleicht kein Brief kommt,
wenigstens nicht gleich früh. Und gerade dieser Brief gleich am Morgen,
ohne quälendes Warten auf den Tisch gelegt, ist ein solcher Trost.
Als Du an mich schriebst, am Montag, war ich nicht mehr im Zug, sondern
bei Brods, vielleicht wurde gerade Dein Name genannt, und ich verfiel in
Stillschweigen und in Gedanken an Dich.
Die Reise ist noch leidlich abgelaufen. Es widerte mich zuerst so an, in
gleicherweise wie letzthin um ½5 früh aufzustehn, dann mit
der Bahn, dann mit dem Wagen in Nässe und Kälte und Trostlosigkeit
zu fahren, dann zu den Verwandten, dann zu Gericht zu gehn, dann die gleiche
stumme Eisenbahnfahrt nachhause auszuführen - dass ich entschlossen
war, abends zu fahren und in Leitmeritz zu übernachten, wodurch ich
auch auf meine Erkältung, die nun schon gänzlich vorüber
ist, Rücksicht genommen hätte. Und dann im Hotelzimmer schlafen,
in der am Sonntag abend überfüllten fremden Restauration sitzen
- das tut mir ganz gut, dort bin ich gerne stumm. Nun zog mich aber an
jenem Abend die Familie Weltsch unversehens und mit Gewalt
ins Theater mit, wo in "Frl. Josette - meine Frau" eine gemeinsame
Bekannte zum erstenmal spielte, natürlich in der nebensächlichsten
Rolle, sie hat nur in der ersten Szene plötzlich aufzulachen, entzückt
zu sein und die Arme zu verrenken, was sie, den Rücken meist dem Publikum
zugewendet, knapp an der Zimmerwandkulisse in etwas übertriebener
Weise machte, trotzdem sie sonst ein stolzes, boshaftes, geriebenes, sehr
gescheites Frauenzimmer ist, vor dem ich immer Angst habe. Es war ein wenig
rücksichtslos, sie in einer solchen Rolle zum erstenmal auf die Bühne
zu schicken.
Nach dem zweiten Akt des Stückes - es gibt natürlich auch in
dem schlechtesten Stück Stellen, an denen man menschlich hängen
bleibt, und ich hätte es vielleicht an einem andern Tage bis zum Ende
ausgehalten - half keine Überredung mehr und ich lief ohne Abschied
zu nehmen nachhause, wodurch ich zwar auf 1 oder 2 Akte Josette und auf
einen Schwank "In Civil" verzichtete, dafür aber früher
an die Luft und früher ins Bett kam. Zuhause verfluchte ich meiner
Schwester gegenüber nochmals kräftig diese Reise, und da sie
große Lust mitzufahren hatte (nicht nur, um mir dadurch zu beweisen,
dass die Reise nicht so schrecklich wäre), versprach ich ihr
gern, sie mitzunehmen. Der Vater hatte, trotzdem dieser Entschluß
erst um ½11 abends gefaßt wurde überraschender Weise
nichts dagegen einzuwenden, was sich nur dadurch erklären läßt,
dass wir in Leitmeritz Verwandte haben und dem Vater an der Erhaltung
verwandtschaftlicher Beziehungen immer sehr gelegen ist und ihm für
solche Zwecke meine Schwester geeigneter erscheint als ich. So sind wir
also am Morgen zusammen weggefahren, da war das Wetter noch gut, aber schon
während der Wagenfahrt regnete es uns ins Gesicht und hörte dann
zu regnen nicht auf. Ich war bis 2 Uhr ununterbrochen bei Gericht (es kam
zu keiner Entscheidung, die Sache mußte wieder vertagt werden, aber
ich lasse mich lieber prügeln, ehe ich wieder herausfahre), die Schwester
ununterbrochen bei den Verwandten. Sie ist ein wenig schwerfällig
im Schreiben (im Grunde nicht anders als ich), darum schrieb sie nur ihren
Namen. Aber eine Faulenzerin ist sie nicht wie Du glaubst; Faulenzerinnen
waren nur meine beiden andern Schwestern oder vielmehr eigentlich nur die
älteste. Die konnte man immer auf dem nächsten Kanapee antreffen.
Aber die Ottla arbeitet ja in unsrem Geschäft; sie ist schon früh
um ¼8 Uhr beim Öffnen da (mein Vater geht erst um ½9
hin) und bleibt dort über Mittag, man bringt ihr das Essen hin, erst
am Nachmittag um 4 oder 5 kommt sie nachhause und wenn Saison ist, bleibt
sie auch bis zum Geschäftsschluß.
Aber die Arbeit ist schließlich nicht gar so schwer und alles in
allem genommen plagt sich kein Mädchen, das ich kenne so wie Du, und
kein Mädchen ist da, dem ich die Plage so erleichtern wollte wie Dir.
Aber was bin denn ich überhaupt imstande! Zu küssen, ja, von
der Ferne zu küssen! Sag mir bitte, Liebste, schon im nächsten
Brief, was würdest Du Frl. Lindner antworten, wenn sie statt allgemeiner
Fragen geradeaus fragen würde: "War eigentlich dieser Mensch
im Laufe des letzten Vierteljahres schon einmal in Berlin? Nicht? Und warum
nicht? Er fährt Samstag mittag von Prag weg oder, wenn das nicht geht,
am Abend, ist über den Sonntag in Berlin und fährt abend nach
Prag. Es ist ein wenig anstrengend, aber im ganzen eine Kleinigkeit. Warum
macht er das nicht?" Was wirst Du arme Liebste antworten?
Franz
Familie Weltsch: Die Familie von Kafkas Freund
Felix Weltsch. Vgl. Anm.1 S. 207.
Letzte Änderung: 4.5.2016 werner.haas@univie.ac.at