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An Felice Bauer

vom 5. zum 6.II.13
 


Liebste, es ist doch ein unglaublich schöner Spaß, zuhause noch einen Brief von Dir zu finden. Wenn er nur nicht durch den Gedanken verbittert wäre, dass ich in dem Brief Deine mißbrauchte Spaziergangszeit in Händen habe, dass ferner, wenn es erlaubt ist, zweimal zu schreiben, kein Grund zu finden ist, warum wir einander nicht immerfort schreiben und näher zusammenrücken sollten um Himmels willen, bis wir ganz beieinander wären, der eine in des andern Armen. Aber das geschieht ja nicht und so reißt es nur an einem. Endlich bleibt die Angst, dass den nächsten Tag vielleicht kein Brief kommt, wenigstens nicht gleich früh. Und gerade dieser Brief gleich am Morgen, ohne quälendes Warten auf den Tisch gelegt, ist ein solcher Trost.

Als Du an mich schriebst, am Montag, war ich nicht mehr im Zug, sondern bei Brods, vielleicht wurde gerade Dein Name genannt, und ich verfiel in Stillschweigen und in Gedanken an Dich.

Die Reise ist noch leidlich abgelaufen. Es widerte mich zuerst so an, in gleicherweise wie letzthin um ½5 früh aufzustehn, dann mit der Bahn, dann mit dem Wagen in Nässe und Kälte und Trostlosigkeit zu fahren, dann zu den Verwandten, dann zu Gericht zu gehn, dann die gleiche stumme Eisenbahnfahrt nachhause auszuführen - dass ich entschlossen war, abends zu fahren und in Leitmeritz zu übernachten, wodurch ich auch auf meine Erkältung, die nun schon gänzlich vorüber ist, Rücksicht genommen hätte. Und dann im Hotelzimmer schlafen, in der am Sonntag abend überfüllten fremden Restauration sitzen - das tut mir ganz gut, dort bin ich gerne stumm. Nun zog mich aber an jenem Abend die Familie Weltsch unversehens und mit Gewalt ins Theater mit, wo in "Frl. Josette - meine Frau" eine gemeinsame Bekannte zum erstenmal spielte, natürlich in der nebensächlichsten Rolle, sie hat nur in der ersten Szene plötzlich aufzulachen, entzückt zu sein und die Arme zu verrenken, was sie, den Rücken meist dem Publikum zugewendet, knapp an der Zimmerwandkulisse in etwas übertriebener Weise machte, trotzdem sie sonst ein stolzes, boshaftes, geriebenes, sehr gescheites Frauenzimmer ist, vor dem ich immer Angst habe. Es war ein wenig rücksichtslos, sie in einer solchen Rolle zum erstenmal auf die Bühne zu schicken.

Nach dem zweiten Akt des Stückes - es gibt natürlich auch in dem schlechtesten Stück Stellen, an denen man menschlich hängen bleibt, und ich hätte es vielleicht an einem andern Tage bis zum Ende ausgehalten - half keine Überredung mehr und ich lief ohne Abschied zu nehmen nachhause, wodurch ich zwar auf 1 oder 2 Akte Josette und auf einen Schwank "In Civil" verzichtete, dafür aber früher an die Luft und früher ins Bett kam. Zuhause verfluchte ich meiner Schwester gegenüber nochmals kräftig diese Reise, und da sie große Lust mitzufahren hatte (nicht nur, um mir dadurch zu beweisen, dass die Reise nicht so schrecklich wäre), versprach ich ihr gern, sie mitzunehmen. Der Vater hatte, trotzdem dieser Entschluß erst um ½11 abends gefaßt wurde überraschender Weise nichts dagegen einzuwenden, was sich nur dadurch erklären läßt, dass wir in Leitmeritz Verwandte haben und dem Vater an der Erhaltung verwandtschaftlicher Beziehungen immer sehr gelegen ist und ihm für solche Zwecke meine Schwester geeigneter erscheint als ich. So sind wir also am Morgen zusammen weggefahren, da war das Wetter noch gut, aber schon während der Wagenfahrt regnete es uns ins Gesicht und hörte dann zu regnen nicht auf. Ich war bis 2 Uhr ununterbrochen bei Gericht (es kam zu keiner Entscheidung, die Sache mußte wieder vertagt werden, aber ich lasse mich lieber prügeln, ehe ich wieder herausfahre), die Schwester ununterbrochen bei den Verwandten. Sie ist ein wenig schwerfällig im Schreiben (im Grunde nicht anders als ich), darum schrieb sie nur ihren Namen. Aber eine Faulenzerin ist sie nicht wie Du glaubst; Faulenzerinnen waren nur meine beiden andern Schwestern oder vielmehr eigentlich nur die älteste. Die konnte man immer auf dem nächsten Kanapee antreffen. Aber die Ottla arbeitet ja in unsrem Geschäft; sie ist schon früh um ¼8 Uhr beim Öffnen da (mein Vater geht erst um ½9 hin) und bleibt dort über Mittag, man bringt ihr das Essen hin, erst am Nachmittag um 4 oder 5 kommt sie nachhause und wenn Saison ist, bleibt sie auch bis zum Geschäftsschluß.

Aber die Arbeit ist schließlich nicht gar so schwer und alles in allem genommen plagt sich kein Mädchen, das ich kenne so wie Du, und kein Mädchen ist da, dem ich die Plage so erleichtern wollte wie Dir. Aber was bin denn ich überhaupt imstande! Zu küssen, ja, von der Ferne zu küssen! Sag mir bitte, Liebste, schon im nächsten Brief, was würdest Du Frl. Lindner antworten, wenn sie statt allgemeiner Fragen geradeaus fragen würde: "War eigentlich dieser Mensch im Laufe des letzten Vierteljahres schon einmal in Berlin? Nicht? Und warum nicht? Er fährt Samstag mittag von Prag weg oder, wenn das nicht geht, am Abend, ist über den Sonntag in Berlin und fährt abend nach Prag. Es ist ein wenig anstrengend, aber im ganzen eine Kleinigkeit. Warum macht er das nicht?" Was wirst Du arme Liebste antworten?

Franz




Familie Weltsch: Die Familie von Kafkas Freund Felix Weltsch. Vgl. Anm.1 S. 207.


Letzte Änderung: 4.5.2016werner.haas@univie.ac.at