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An Felice Bauer
Nichts, nichts, den ganzen langen Tag nichts. Ich fliege bis 11 Uhr jede
½ Stunde durch die Korridore, schaue auf alle Hände, nichts.
Denke, dann ist es eben zuhause, komme nachhause und nichts. Und das gerade
in einer Zeit, in der unser Boot ein wenig schwankt, durch meine Schuld
natürlich, Du bis auf das Blut gequälte[s], liebste[s] Mädchen,
Du.
Was bedeutet Dein Nichtschreiben? Etwas Schlimmes? Du, die ich mir so nahe
fühlte, lebst jetzt eigenmächtig einen Tag lang in Berlin, und
ich weiß nichts von Dir. Welcher Tag war es denn? Dienstag mittag
schriebst Du mir zum letzten Mal. Abend konntest Du dann nicht, gut, Mittwoch
am Tage konntest Du nicht, gut, aber dann schriebst Du, bitte, schriebst
(ich bitte für die Vergangenheit) schriebst also am Mittwoch abend,
und morgen früh mit der ersten Post habe ich Deinen Brief und lese,
dass Du mich nicht verlassen willst, selbst wenn Du in mir statt eines
Menschen, einen (wie man nach manchen Briefen glauben möchte) kranken,
wild gewordenen Affen finden solltest.
Manchmal denke ich an die falschen Vorstellungen, die sich Deine Umgebung,
die Kleinen, das Frl. Lindner, Deine Mutter und Schwester von unserem Briefwechsel
machen müssen. Wie sie glauben müssen, dass da in Prag irgendein
braver, treuer Junge ist, der der Felice nur Liebes und Gutes zu schreiben
hat, Tag für Tag, so wie es diese Felice verdient, und wie es niemanden
in Erstaunen setzen würde. Und keiner von ihnen weiß, dass
er sehr oft der Felice einen großen Dienst erweisen könnte,
wenn er das Fenster ein wenig öffnen und vor ihrer Ankunft den Brief
aus dem Fenster werfen würde.
Das ist ja der Unterschied zwischen uns, Felice. Wenn es mir schlecht geht
(und ich freue mich fast, dass es in der letzten Zeit nicht aufhören
will, so verdiene ich es), dann ist es meine Schuld; was geschlagen wird,
bin ich, und was schlägt, bin wieder ich, aber wo wäre bei Dir,
Felice die geringste Schuld zu finden?
Ich habe heute nichts geschrieben, ich war bei Max, er hat mich schriftlich
darum gebeten, und mündlich hat er mir Vorwürfe darüber
gemacht, dass wir einander entfremden, durch meine Schuld natürlich,
durch meine Lebensweise, ich komme zu ihm höchstens einmal in der
Woche, und wenn ich komme, sehe ich aus, als wäre ich gerade aus dem
tiefsten Schlaf getrommelt worden. Was soll ich tun? Ich halte eben die
Zeit mit den Zähnen fest, und sie wird mir doch herausgerissen. Samstag
muß ich wieder zu Max. Er hat etwas Ehemännisches, von Launen
Unabhängiges, trotz Leiden und Unruhe oberflächlich Fröhliches.
- Liebste, dass Du mir morgen erscheinst in dem schrecklichen Bureau!
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at