Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

vom 23. zum 24.1. 13
 


Nichts, nichts, den ganzen langen Tag nichts. Ich fliege bis 11 Uhr jede ½ Stunde durch die Korridore, schaue auf alle Hände, nichts. Denke, dann ist es eben zuhause, komme nachhause und nichts. Und das gerade in einer Zeit, in der unser Boot ein wenig schwankt, durch meine Schuld natürlich, Du bis auf das Blut gequälte[s], liebste[s] Mädchen, Du.

Was bedeutet Dein Nichtschreiben? Etwas Schlimmes? Du, die ich mir so nahe fühlte, lebst jetzt eigenmächtig einen Tag lang in Berlin, und ich weiß nichts von Dir. Welcher Tag war es denn? Dienstag mittag schriebst Du mir zum letzten Mal. Abend konntest Du dann nicht, gut, Mittwoch am Tage konntest Du nicht, gut, aber dann schriebst Du, bitte, schriebst (ich bitte für die Vergangenheit) schriebst also am Mittwoch abend, und morgen früh mit der ersten Post habe ich Deinen Brief und lese, dass Du mich nicht verlassen willst, selbst wenn Du in mir statt eines Menschen, einen (wie man nach manchen Briefen glauben möchte) kranken, wild gewordenen Affen finden solltest.

Manchmal denke ich an die falschen Vorstellungen, die sich Deine Umgebung, die Kleinen, das Frl. Lindner, Deine Mutter und Schwester von unserem Briefwechsel machen müssen. Wie sie glauben müssen, dass da in Prag irgendein braver, treuer Junge ist, der der Felice nur Liebes und Gutes zu schreiben hat, Tag für Tag, so wie es diese Felice verdient, und wie es niemanden in Erstaunen setzen würde. Und keiner von ihnen weiß, dass er sehr oft der Felice einen großen Dienst erweisen könnte, wenn er das Fenster ein wenig öffnen und vor ihrer Ankunft den Brief aus dem Fenster werfen würde.

Das ist ja der Unterschied zwischen uns, Felice. Wenn es mir schlecht geht (und ich freue mich fast, dass es in der letzten Zeit nicht aufhören will, so verdiene ich es), dann ist es meine Schuld; was geschlagen wird, bin ich, und was schlägt, bin wieder ich, aber wo wäre bei Dir, Felice die geringste Schuld zu finden?

Ich habe heute nichts geschrieben, ich war bei Max, er hat mich schriftlich darum gebeten, und mündlich hat er mir Vorwürfe darüber gemacht, dass wir einander entfremden, durch meine Schuld natürlich, durch meine Lebensweise, ich komme zu ihm höchstens einmal in der Woche, und wenn ich komme, sehe ich aus, als wäre ich gerade aus dem tiefsten Schlaf getrommelt worden. Was soll ich tun? Ich halte eben die Zeit mit den Zähnen fest, und sie wird mir doch herausgerissen. Samstag muß ich wieder zu Max. Er hat etwas Ehemännisches, von Launen Unabhängiges, trotz Leiden und Unruhe oberflächlich Fröhliches. - Liebste, dass Du mir morgen erscheinst in dem schrecklichen Bureau!

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at