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An Felice Bauer
Meine arme Liebste, wenn schon das chinesische Gedicht
eine so große Bedeutung für uns bekommen hat, so muß ich
Dich noch eines fragen. Ist es Dir nicht aufgefallen, dass gerade
von einer Freundin des Gelehrten die Rede ist und nicht von seiner Ehefrau,
trotzdem doch dieser Gelehrte sicher ein älterer Mann ist und beides,
die Gelehrsamkeit und das Alter, dem Beisammensein mit einer Freundin zu
widersprechen scheinen. Der Dichter aber, der nur rücksichtslos die
abschließende Situation erstrebte, ging über diese Unwahrscheinlichkeit
hinweg. War es deshalb, weil er die Unwahrscheinlichkeit einer Unmöglichkeit
vorzog? Und wenn es nicht so war, fürchtete er vielleicht, dass
eine ähnliche Gegenüberstellung des Gelehrten zu seiner Frau
dem Gedicht jede Fröhlichkeit nehmen und dein Leser nichts anderes
beibringen könnte, als das Mitgefühl des Jammers dieser Frau?
Diese Freundin in dem Gedicht ist nicht schlimm daran, diesmal verlöscht
die Lampe wirklich, die Plage war nicht so groß, es steckt auch noch
genug Lustigkeit in ihr. Wie aber, wenn es nun die Ehefrau gewesen wäre,
und jene Nacht nicht eine zufällige Nacht, sondern ein Beispiel aller
Nächte und dann natürlich nicht nur der Nächte, sondern
des ganzen gemeinschaftlichen Lebens, dieses Lebens, das ein Kampf um die
Lampe wäre. Welcher Leser könnte noch lächeln? Die Freundin
im Gedicht hat deshalb unrecht, weil sie diesmal siegt und nichts will,
als einmal siegen; weil sie aber schön ist und nur einmal siegen will,
und ein Gelehrter niemals mit einem Male überzeugen kann, verzeiht
ihr selbst der strengste Leser. Eine Ehefrau dagegen hätte immer recht,
es wäre ja nicht ein Sieg, sondern ihr Dasein, das sie verlangte,
und das der Mann über seinen Büchern ihr nicht geben kann, wenn
er auch vielleicht nur zum Schein in seine Bücher schaut und tage-
und nächtelang an nichts anderes denkt, als an die Frau, die er über
alles liebt, aber eben mit seiner ihm angeborenen Unfähigkeit liebt.
Die Freundin hat hierin gewiß einen schärferen Blick als die
Ehefrau, sie ist eben nicht ganz in die Situation versenkt, sie behält
den Kopf oben. Die Ehefrau aber, als das arme, unglückliche Wesen,
das sie ist, kämpft wie blind; das, was sie vor Augen hat, sieht sie
nicht, und wo eine Mauer steht, glaubt sie im geheimen, dass dort
nur ein Seil gespannt ist, unter dem man immer noch wird durchkriechen
können. So verhält es sich wenigstens in der Ehe meiner Eltern,
trotzdem hier ganz andere Ursachen wirken, als in dem chinesischen Gedicht.
Nicht jedes chinesische Gedicht meiner Sammlung ist übrigens dem Gelehrten
so günstig wie dieses, und nur in den ihm freundlichen Gedichten heißt
er "Gelehrter", sonst heißt er "Stubenhocker".
Dann ist ihm gegenübergestellt "der unerschrockene Reisende",
der Kriegsheld, der mit den gefährlichen Gebirgsvölkern Kämpfe
besteht. Den erwartet seine Frau, zwar unruhig, aber von seinem Anblick
ganz beglückt, da sieht man einander in die Augen, wie treue Menschen,
die einander lieben und einander lieben dürfen, da gibt es nicht den
schiefen Blick, mit dem die Freundin in der Güte und dem Zwange ihres
Herzens den Gelehrten beobachtet, da wart schließlich Kinder und
umspringen den zurückkehrenden Vater, während die Wohnung des
"Stubenhockers" leer ist, dort gibt es keine Kinder.
Liebste, was ist das doch für ein schreckliches Gedicht, ich hätte
es nie gedacht. Vielleicht kann man es, ebenso wie es sich öffnen
läßt auch zertreten und darüber hinweg, das menschliche
Leben hat viele Stockwerke, das Auge sieht nur eine Möglichkeit, aber
im Herzen sind alle Möglichkeiten versammelt. Was meinst Du, Liebste?
Franz
das chinesische Gedicht:Vgl. Kafkas Brief vom 24
November 1912, S. 119.
Letzte Änderung: 4.5.2016 werner.haas@univie.ac.at