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An Felice Bauer

vom 21. zum 22. 1.13
 


Meine arme Liebste, wenn schon das chinesische Gedicht eine so große Bedeutung für uns bekommen hat, so muß ich Dich noch eines fragen. Ist es Dir nicht aufgefallen, dass gerade von einer Freundin des Gelehrten die Rede ist und nicht von seiner Ehefrau, trotzdem doch dieser Gelehrte sicher ein älterer Mann ist und beides, die Gelehrsamkeit und das Alter, dem Beisammensein mit einer Freundin zu widersprechen scheinen. Der Dichter aber, der nur rücksichtslos die abschließende Situation erstrebte, ging über diese Unwahrscheinlichkeit hinweg. War es deshalb, weil er die Unwahrscheinlichkeit einer Unmöglichkeit vorzog? Und wenn es nicht so war, fürchtete er vielleicht, dass eine ähnliche Gegenüberstellung des Gelehrten zu seiner Frau dem Gedicht jede Fröhlichkeit nehmen und dein Leser nichts anderes beibringen könnte, als das Mitgefühl des Jammers dieser Frau? Diese Freundin in dem Gedicht ist nicht schlimm daran, diesmal verlöscht die Lampe wirklich, die Plage war nicht so groß, es steckt auch noch genug Lustigkeit in ihr. Wie aber, wenn es nun die Ehefrau gewesen wäre, und jene Nacht nicht eine zufällige Nacht, sondern ein Beispiel aller Nächte und dann natürlich nicht nur der Nächte, sondern des ganzen gemeinschaftlichen Lebens, dieses Lebens, das ein Kampf um die Lampe wäre. Welcher Leser könnte noch lächeln? Die Freundin im Gedicht hat deshalb unrecht, weil sie diesmal siegt und nichts will, als einmal siegen; weil sie aber schön ist und nur einmal siegen will, und ein Gelehrter niemals mit einem Male überzeugen kann, verzeiht ihr selbst der strengste Leser. Eine Ehefrau dagegen hätte immer recht, es wäre ja nicht ein Sieg, sondern ihr Dasein, das sie verlangte, und das der Mann über seinen Büchern ihr nicht geben kann, wenn er auch vielleicht nur zum Schein in seine Bücher schaut und tage- und nächtelang an nichts anderes denkt, als an die Frau, die er über alles liebt, aber eben mit seiner ihm angeborenen Unfähigkeit liebt. Die Freundin hat hierin gewiß einen schärferen Blick als die Ehefrau, sie ist eben nicht ganz in die Situation versenkt, sie behält den Kopf oben. Die Ehefrau aber, als das arme, unglückliche Wesen, das sie ist, kämpft wie blind; das, was sie vor Augen hat, sieht sie nicht, und wo eine Mauer steht, glaubt sie im geheimen, dass dort nur ein Seil gespannt ist, unter dem man immer noch wird durchkriechen können. So verhält es sich wenigstens in der Ehe meiner Eltern, trotzdem hier ganz andere Ursachen wirken, als in dem chinesischen Gedicht.

Nicht jedes chinesische Gedicht meiner Sammlung ist übrigens dem Gelehrten so günstig wie dieses, und nur in den ihm freundlichen Gedichten heißt er "Gelehrter", sonst heißt er "Stubenhocker". Dann ist ihm gegenübergestellt "der unerschrockene Reisende", der Kriegsheld, der mit den gefährlichen Gebirgsvölkern Kämpfe besteht. Den erwartet seine Frau, zwar unruhig, aber von seinem Anblick ganz beglückt, da sieht man einander in die Augen, wie treue Menschen, die einander lieben und einander lieben dürfen, da gibt es nicht den schiefen Blick, mit dem die Freundin in der Güte und dem Zwange ihres Herzens den Gelehrten beobachtet, da wart schließlich Kinder und umspringen den zurückkehrenden Vater, während die Wohnung des "Stubenhockers" leer ist, dort gibt es keine Kinder.

Liebste, was ist das doch für ein schreckliches Gedicht, ich hätte es nie gedacht. Vielleicht kann man es, ebenso wie es sich öffnen läßt auch zertreten und darüber hinweg, das menschliche Leben hat viele Stockwerke, das Auge sieht nur eine Möglichkeit, aber im Herzen sind alle Möglichkeiten versammelt. Was meinst Du, Liebste?

Franz




das chinesische Gedicht:Vgl. Kafkas Brief vom 24 November 1912, S. 119.


Letzte Änderung: 4.5.2016werner.haas@univie.ac.at