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An Felice Bauer
Liebste, es ist beim Schreiben wieder sehr spät geworden, immer wieder
fällt mir gegen 2 Uhr nachts der chinesische Gelehrte
ein.
Leider, leider weckt mich nicht die Freundin, nur der Brief, den ich ihr
schreiben will. Einmal schriebst Du, Du wolltest bei mir sitzen, während
ich schreibe; denke nur, da könnte ich nicht schreiben (ich kann auch
sonst nicht viel) aber da könnte ich gar nicht schreiben. Schreiben
heißt ja sich öffnen bis zum Übermaß; die äußerste
Offenherzigkeit und Hingabe, in der sich ein Mensch im menschlichen Verkehr
schon zu verlieren glaubt und vor der er also, solange er bei Sinnen ist,
immer zurückscheuen wird - denn leben will jeder, solange er lebt
- diese Offenherzigkeit und Hingabe genügt zum Schreiben bei weitem
nicht. Was von dieser Oberfläche ins Schreiben hinübergenommen
wird - wenn es nicht anders geht und die tiefern Quellen schweigen - ist
nichts und fällt in dem Augenblick zusammen, in dem ein wahreres Gefühl
diesen obern Boden zum Schwanken bringt. Deshalb kann man nicht genug allein
sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht genug still um einen sein,
wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht. Deshalb kann nicht
genug Zeit einem zur Verfügung stehn, denn die Wege sind lang, und
man irrt leicht ab, man bekommt sogar manchmal Angst und hat schon ohne
Zwang und Lockung Lust zurückzulaufen (eine später immer schwer
bestrafte Lust), wie erst, wenn man unversehens einen Kuß vom liebsten
Mund bekäme! Oft dachte ich schon daran, dass es die beste Lebensweise
für mich wäre, mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten Raume
eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers zu sein. Das Essen brächte
man mir, stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten
Tür des Kellers nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch
alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang. Dann
kehrte ich zu meinem Tisch zurück, würde langsam und mit Bedacht
essen und wieder gleich zu schreiben anfangen. Was ich dann schreiben würde!
Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde! Ohne Anstrengung!
Denn äußerste Koncentration kennt keine Anstrengung. Nur, dass
ich es vielleicht nicht lange treiben würde und beim ersten, vielleicht
selbst in solchem Zustand nicht zu vermeidendem Mißlingen in einen
großartigen Wahnsinn ausbrechen müßte. Was meinst Du,
Liebste? Halte Dich vor dein Kellerbetvohner nicht zurück!
Franz
chinesische Gelehrte: Vgl. Kafkas Brief vom 24.
November 1912, S. 119.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at