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An Felice Bauer

vom 10. zum 11.I.13
 


Vor allem, Liebste, keine Selbstvorwürfe wegen zu wenig Schreibens! Du schreibst mir viel zu viel für Deine wenige Zeit, viel zu viel!

Wenn Du nur, wie in der letzten Zeit, die schöne Regelmäßigkeit des täglichen Schreibens einhalten kannst, habe ich, was das Schreiben anlangt, keine weiteren Wünsche, und da die andern Wünsche augenblicklich oder für immer unerfüllbar sind, so ist ja alles in Ordnung, wenn auch nicht in bester.

dass ich mich unmittelbar nach den letzten Worten mit Verwandten zu Tische setze, um Dir zu schreiben, während früher immer mein Schreiben vorherging und ich also, als ich für Dich die Feder nahm, mich auf einer höheren Stufe, ob im Glück oder im Unglück, vorfand - das stört mich. Es darf auch nicht lange so bleiben, Montag, denke ich, fange ich wieder zu schreiben an, viele Geschichten, Liebste, trommeln ihre Märsche in meinem Kopf.

Dabei winde ich mich manchmal vor Trauer, die allerdings alle möglichen Gründe hat. Nicht der kleinste ist das Miterleben dieser zwei Verlobungszeiten, Maxens und meiner Schwester. Heute im Bett klagte ich zu Dir über diese zwei Verlobungen in einer langen Rede, die Dir gewiß sehr begründet erschienen wäre, jetzt werde ich wohl nicht mehr alles, was angeführt werden müßte, zusammenbringen, und so lasse ich es vielleicht lieber. Du, was für Ansprachen ich an Dich im Bette halte! Auf dem Rücken liegend, die Füße gegen die Bettpfosten gestemmt, wie rede ich da für die liebste Zuhörerin still in mich hinein! Wir haben so verschiedene Talente. Ich bin der große Redner im Bett, Du die große Briefschreiberin im Bett. Wie machst Du denn das? Dieses Briefschreiben im Bett hast Du mir noch nicht beschrieben.

Mit keiner dieser Verlobungen bin ich zufrieden und habe doch zu Maxens Verlobung sehr und vielleicht ein wenig mitentscheidend geraten; und von der Verlobung meiner Schwester habe ich wenigstens niemals abgeraten. Und außerdem bin ich doch ein schlechter Prophet und Menschenkenner, wie sich an der Ehe meiner verheirateten Schwester [Elli] zeigt, bei deren Verlobung ich die gleiche Trostlosigkeit fühlte, während die Schwester, ein früher schwerfälliges, nie zu befriedigendes, verdrießlich sich forthaspelndes Wesen, jetzt in der Ehe über ihren zwei Kindern in lauter Glück ihre Existenz förmlich verbreitert hat [*]. Aber trotzdem kann ich meiner Menschenkenntnis nicht mißtrauen, denn sie fühlt sich durch Tatsachen nicht widerlegt und muß also doch ein tieferes Recht haben, trotzdem ich dadurch vielleicht dieser angeblichen Menschenkenntnis den Anschein einer bloß tief sich verbohrten Dummheit gebe. Und dann - warum leide ich unter diesen Verlobungen in dieser sonderbaren Art, als treffe mich augenblicklich und unmittelbar ein Unglück, während doch jede Ahnung sich nur auf die Zukunft beziehen kann, während die Hauptbeteiligten selbst unerwartet (kränkt mich vielleicht dieses Unerwartete ?) glücklich sind, während schließlich ich selbst persönlich und unmittelbar mich an allen diesen Verlobungs- und Hochzeitsdingen fast gar nicht beteilige. (Gestern sagte abend mein künftiger Schwager ohne jede Bosheit, ohne jede Beziehung auf meine ungeheuerliche Teilnahmslosigkeit, bloß im sinnlosen Scherz: "Guten Abend, Franz! Wie geht's? Was schreibt man von zuhause?" Die Redensart hatte, wenn man wollte, einen guten Sinn.)

Nun, ich bin aber doch beteiligt, die zwei fremden Familien dringen meinem Gefühl nach auf mich ein, die Familie des Schwager wird sogar in meine eigene Familie hereingetrieben. -

Nein, ich schreibe heute nicht mehr weiter, es wird augenblicklich nicht ganz überzeugend, vielleicht ahnst Du im ganzen, was ich meine, im einzelnen, und das ist das Wichtigste, kannst Du es leider von der Ferne nicht verstehn.

In dem Augenblick, in dem Du diesen Brief liest, fahre ich vielleicht in meinem alten Frack, mit zersprungenen Lackstiefeln, viel zu kleinem Cylinderhut und außergewöhnlich bleichem Gesicht (ich brauche jetzt nämlich immer so lange Zeit zum Einschlafen) als Kranzelherr neben einer angenehmen, hübschen, eleganten und vor allem sehr rücksichtsvollen und bescheidenen Cousine in den Tempel, wo die Hochzeit mit dieser großen Feierlichkeit vollzogen wird, die mich auch immer stört, denn dadurch, dass für die jüdische Allgemeinheit wenigstens bei uns die religiösen Ceremonien sich auf Hochzeit und Begräbnis eingeschränkt haben, rücken diese zwei Gelegenheiten in eine so rücksichtslose Nähe, und man sieht förmlich die strafenden Blicke eines vergehenden Glaubens.

Gute Nacht, meine Liebste. Wie freue ich mich, dass wenigstens einmal Dein Sonntag zweifellos ruhiger ist als der meine. Mit welcher Bemerkung wohl Deine Mutter diesen Brief Dir wieder übergibt?

Franz


Ich las jetzt nochmals Deinen Brief, und da er mich auf einige Dinge neugierig gemacht hat, stelle ich noch folgende Fragen:


1. Was bedeutet das: Das Medaillon habe ich noch nicht abgemacht.

2. Bei welcher befreundeten Familie warst Du? Gott weiß, wie das kommt, Namen machen mir alles klar.

3. Wie war es im Familienbad? Hier muß ich leider eine Bemerkung unterdrücken (sie bezieht sich auf mein Aussehen im Bad, auf meine Magerkeit) *. Ich sehe im Bad wie ein Waisenknabe aus. Es gab eine Zeit, das ist nun schon allerdings sehr lange her, wir waren in einer Sommerfrische an der Elbe, es war ein sehr heißer Sommer, das Flußbad war ein besonderes Vergnügen. Nun war aber die Badeanstalt sehr klein, Männer und Frauen badeten durcheinander, ich weiß gar nicht mehr, ob es dort zwei Kabinen gegeben hat, die Gesellschaft in jener Sommerfrische war überhaupt sehr lustig und hat es sich wohl sein lassen. Ich aber nicht; hie und da wagte ich mich unter die Frauen, aber nur selten, meistens - mein Verlangen nach dem Bad war natürlich unaufhörlich und grenzenlös - streifte ich allein wie ein verlorener Hund auf den schmalsten Wegen der den Fluß begleitenden Anhöhen herum und beobachtete die kleine Badeanstalt stundenlang, ob sie sich nicht endlich leeren und für mich zugänglich werden wolle. Wie verfluchte ich zu spät Kommende, welche die vielleicht schon leere Badeanstalt plötzlich wieder füllten, wie jammerte ich, wenn nach ungewöhnlicher Hitze, während welcher alle Leute das Bad genossen hatten, ein großes Gewitter kam und mir jede Hoffnung aufs Bad nun nahm. Im allgemeinen konnte ich erst gegen Abend baden, aber dann war die Luft schon kühl, und das Vergnügen war nicht mehr so groß. Nur manchmal wurde ich durch eine Art Sonnenstich rücksichtslos gemacht und stürmte die übervolle Badeanstalt. Natürlich konnte ich ruhig baden und mit den andern spielen, kein Mensch kümmerte sich um den kleinen Jungen, aber ich wollte es nicht glauben.

4. Von Deinem Vater möchte ich gerne bei Gelegenheit noch mehr hören.


Aber jetzt ist es wieder spät, Du! Auch habe ich noch gar nichts für dieses Hochzeitsmahl an Unterhaltung vorbereitet, und was das Ärgste ist, ich kann es auch nicht und werde es nicht.

Franz


* [Am Rande] Hier ist sie doch, diese Bemerkung: Bist Du nicht im Angstschweiß aufgewacht?




[*] Vgl. "Brief an den Vater", Hochzeitsvorbereitungen, S, 190 f


bleichem Gesicht: ["außergewöhnlich bleichem" gestrichen, zwischen den Zeilen Das ist nichts als Koketterie, ich schaue genau so aus wie sonst und wie damals im August


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at