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An Felice Bauer
Ich habe heute aus verschiedenen Gründen statt zu schreiben einen
Spaziergang mit jenem Dr. Weltsch gemacht, nachdem ich 1½ Stunden
inmitten seiner Familie gesessen bin und mir von seinem Vater, einem für
alles interessierten, klugen Menschen, er ist kleiner Tuchhändler,
viele alte, schöne Geschichtchen aus der frühem Prager Judenstadt,
aus den Zeiten seines Großvaters, der noch ein großer Tuchhändler
gewesen ist, habe erzählen lassen. Ich mußte mit fremden Menschen
beisammen sein und dabei war mir doch in ihrer Gegenwart nicht wohl. Dieser
Widerspruch äußert sich bei mir immer darin, dass ich denjenigen,
der mir etwas erzählt, nicht fest anschauen kann, der Blick gleitet
mir, wenn ich ihn gewähren lasse, von dem fremden Gesichte ab und
kämpfe ich dagegen an, wird es natürlich kein fester, sondern
ein starrer Blick. Aber will ich denn den ganzen Abend beschreiben? Nein,
aber aus dem ungeheuern Wust des zu Sagenden drängt sich dem ein wenig
stumpfen Sinn nur Willkürliches und Nebensächliches hervor. Es
scheint mir überhaupt, als hätte ich Dir in den letzten Tagen
so wenig, selbst von dem Dringendsten erzählt und geantwortet, dass
ich manchmal das Gefühl habe, als sei ich im Begriff, Deines Zuhörens
verlustig zu werden. Das darf nicht sein, Felice. Deute mein Nichtantworten
auf einzelne Fragen nicht schlecht, nicht zu meinen Ungunsten, diese Wellen,
die mich tragen, sind dunkles, trübes, schweres Wasser, ich komme
langsam vorwärts und bleibe auch stecken, aber dann treibt es mich
doch wieder weiter und es geht ganz gut. Du mußt es doch schon bemerkt
haben in unserem ersten Vierteljahr.
Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran, ich bin sogar als großer
Lacher bekannt, doch war ich in dieser Hinsicht früher viel närrischer
als jetzt. Es ist mir sogar passiert, dass ich in einer feierlichen
Unterredung mit unserem Präsidenten - es ist schon zwei Jahre her,
wird aber in der Anstalt als Legende mich überleben - zu lachen angefangen
habe; aber wie! Es wäre zu umständlich, Dir die Bedeutung dieses
Mannes darzustellen, glaube mir also, dass sie sehr groß ist,
und dass ein normaler Anstaltsbeamter sich diesen Mann nicht auf der
Erde, sondern in den Wolken vorstellt. Und da wir im allgemeinen nicht
viel Gelegenheit haben mit dem Kaiser zu reden, so ersetzt dieser Mann
dem normalen Beamten - ähnlich ist es ja in allen großen Betrieben
- das Gefühl einer Zusammenkunft mit dem Kaiser. Natürlich haftet
auch diesem Mann, wie jedem in ganz klare allgemeine Beobachtung gestellten
Menschen, dessen Stellung nicht ganz dem eigenen Verdienste entspricht,
genug Lächerlichkeit an, aber sich durch eine solche Selbstverständlichkeit,
durch diese Art Naturerscheinung, gar in der Gegenwart des großen
Mannes zum Lachen verleiten lassen, dazu muß man schon gottverlassen
sein. Wir - zwei Kollegen und ich - waren damals gerade zu einem höhern
Rang erhoben worden und hatten uns in feierlichem schwarzen Anzug beim
Präsidenten zu bedanken, wobei ich nicht zu sagen vergessen darf,
dass ich aus besonderem Grunde dem Präsidenten
von vornherein zu besonderem Dank verpflichtet bin. Der würdigste
von uns dreien - ich war der jüngste - hielt die Dankrede, kurz, vernünftig,
schneidig, wie das seinem Wesen entsprach. Der Präsident hörte
in seiner gewöhnlichen, bei feierlicher Gelegenheit gewählten,
ein wenig an die Audienzhaltung unseres Kaisers erinnernden, tatsächlich
(wenn man will und nicht anders kann) urkomischen Stellung zu. Die Beine
leicht gekreuzt, die linke Hand zur Faust geballt auf die äußerste
Tischecke gelegt, den Kopf gesenkt, so dass sich der weiße Vollbart
auf der Brust einbiegt und zu alledem den nicht allzu großen aber
immerhin vortretenden Bauch ein wenig schaukelnd. Ich muß damals
in einer sehr unbeherrschbaren Laune gewesen sein, denn diese Stellung
kannte ich schon zur Genüge und es war gar nicht nötig, dass
ich, allerdings mit Unterbrechungen, kleine Lachanfälle bekam, die
sich aber noch leicht als Hustenreiz erklären ließen, zumal
der Präsident nicht aufsah. Auch hielt mich die klare Stimme meines
Kollegen, der nur vorwärts blickte und meinen Zustand wohl bemerkte,
ohne sich aber von ihm beeinflussen zu lassen, noch genug im Zaum. Da hob
aber der Präsident nach Beendigung der Rede meines Kollegen das Gesicht
und nun packte mich für einen Augenblick ein Schrecken ohne Lachen,
denn nun konnte er ja auch meine Mienen sehn und leicht feststellen, dass
das Lachen, das mir zu meinem Leidwesen aus dem Munde kam, durchaus kein
Husten war. Als er aber seine Rede anfing, wieder diese übliche, längst
vorher bekannte, kaiserlich schematische, von schweren Brusttönen
begleitete, ganz und gar sinnlose und unbegründete Rede, als mein
Kollege durch Seitenblicke mich, der ich mich ja gerade zu beherrschen
suchte, warnen wollte und mich gerade dadurch lebhaft an den Genuß
des frühern Lachens erinnerte, konnte ich mich nicht mehr halten und
alle Hoffnung schwand mir, dass ich mich jemals würde halten
können. Zuerst lachte ich nur zu den kleinen hie und da eingestreuten
zarten Späßchen des Präsidenten; während es aber Gesetz
ist, dass man zu solchen Späßchen nur gerade in Respekt
das Gesicht verzieht, lachte ich schon aus vollem Halse, ich sah, wie meine
Kollegen aus Furcht vor Ansteckung erschraken, ich hatte mit ihnen mehr
Mitleid als mit mir, aber ich konnte mir nicht helfen, dabei suchte ich
mich nicht etwa abzuwenden oder die Hand vorzuhalten, sondern starrte immerzu
dem Präsidenten in meiner Hilflosigkeit ins Gesicht, unfähig
das Gesicht wegzuwenden, wahrscheinlich in einer gefühlsmäßigen
Annahme, dass nichts besser, alles nur schlechter werden könne
und dass es daher am besten sei, jede Veränderung zu vermeiden.
Natürlich lachte ich dann, da ich nun schon einmal im Gange war, nicht
mehr bloß über die gegenwärtigen Späßchen, sondern
auch über die vergangenen und die zukünftigen und über alle
zusammen, und kein Mensch wußte mehr, worüber ich eigentlich
lache; eine allgemeine Verlegenheit fing an, nur der Präsident war
noch verhältnismäßig unbeteiligt, als großer Mann,
der an vielerlei in der Welt gewöhnt ist, und dem übrigens die
Möglichkeit der Respektlosigkeit vor seiner Person gar nicht eingehn
kann. Wenn wir in diesem Zeitpunkt herausgeschlüpft wären, der
Präsident kürzte auch vielleicht seine Rede ein wenig ab, wäre
noch alles ziemlich gut abgelaufen, mein Benehmen wäre zwar zweifellos
unanständig gewesen, diese Unanständigkeit wäre aber nicht
offen zur Sprache gekommen und die Angelegenheit wäre, wie dies mit
solchen scheinbar unmöglichen Dingen öfters geschieht, durch
stillschweigendes Übereinkommen unserer vier, die wir beteiligt waren,
erledigt gewesen. Nun fing aber zum Unglück der bisher nicht erwähnte
Kollege (ein fast 40jähriger Mann mit rundem kindischen aber bärtigen
Gesicht, dabei ein fester Biertrinker) eine kleine, ganz unerwartete Rede
an. Im Augenblick war es mir vollständig unbegreiflich, er war ja
schon durch mein Lachen ganz aus der Fassung gebracht gewesen, hatte mit
vor verhaltenem Lachen aufgeblähten Wangen dagestanden und - jetzt
fing er eine ernste Rede an. Nun war das aber bei ihm gut verständlich.
Er hat ein so leeres, hitziges Temperament, ist imstande, von allen anerkannte
Behauptungen leidenschaftlich endlos zu vertreten, und die Langweile dieser
Reden wäre ohne das Lächerliche und Sympathische ihrer Leidenschaft
unerträglich. Nun hatte der Präsident in aller Harmlosigkeit
irgendetwas gesagt, was diesem Kollegen nicht ganz paßte, außerdem
hatte er, vielleicht durch den Anblick meines schon ununterbrochenen Lachens
beeinflußt, ein wenig daran vergessen, wo er sich befand, kurz er
glaubte, es sei der richtige Augenblick gekommen, mit seinen besondern
Ansichten hervorzutreten und den (gegen alles, was andere reden, natürlich
zum Tode gleichgültigen) Präsidenten zu überzeugen. Als
er also jetzt mit schwingenden Handbewegungen etwas (schon im allgemeinen
und hier insbesondere) Läppisches daherredete, wurde es mir zu viel,
die Welt, die ich bisher immerhin im Schein vor den Augen gehabt hatte,
verging mir völlig und ich stimmte ein so lautes, rücksichtsloses
Lachen an, wie es vielleicht in dieser Herzlichkeit nur Volksschülern
in ihren Schulbänken gegeben ist. Alles verstummte und nun war ich
endlich mit meinem Lachen anerkannter Mittelpunkt. Dabei schlotterten mir
natürlich vor Angst die Knie während ich lachte, und meine Kollegen
konnten nun ihrerseits nach Belieben mitlachen, die Gräßlichkeit
meines so lange vorbereiteten und geübten Lachens erreichten sie ja
doch nicht und blieben vergleichsweise unbemerkt. Mit der rechten Hand
meine Brust schlagend, zum Teil im Bewußtsein meiner Sünde (in
Erinnerung an den Versöhnungstag), zum Teil, um das viele verhaltene
Lachen aus der Brust herauszutreiben, brachte ich vielerlei Entschuldigungen
für mein Lachen vor, die vielleicht alle sehr überzeugend waren,
aber infolge neuen, immer dazwischenfahrenden Lachens gänzlich unverstanden
blieben. Nun war natürlich selbst der Präsident beirrt, und nur
in dem solchen Leuten schon mit allen seinen Hilfsmitteln eingeborenen
Gefühl alles möglichst abzurunden, fand er irgendeine Phrase,
die meinem Heulen irgendeine menschliche Erklärung gab, ich glaube
eine Beziehung zu einem Spaß, den er vor langer Zeit gemacht hatte.
Dann entließ er uns eilig. Unbesiegt, mit großem Lachen, aber
todunglücklich stolperte ich als erster aus dem Saal. - Die Sache
ist ja durch einen Brief, den ich dem Präsidenten gleich danach schrieb,
sowie durch Vermittlung eines Sohnes des Präsidenten, den ich gut
kenne, endlich auch durch den Zeitverlauf zum größten Teil besänftigt
worden, gänzliche Verzeihung habe ich natürlich nicht erlangt
und werde sie auch nie erlangen. Aber daran liegt nicht viel, vielleicht
habe ich es damals nur getan, um Dir später einmal beweisen zu können,
dass ich lachen kann.
Nun habe ich aber - und so rächt sich die alte Schuld gegenüber
dem Präsidenten neuerlich -. so viel geschrieben und nichts. Nur noch
paar Antworten in letzter Eile vor dem Schlafengehn : [Brods] "Höhe
des Gefühls" gehört natürlich Dir, ganz und gar Dir.
Die Widmung "als Freund" ist ausdrücklich für Dich
bestimmt, Du nimmst sie doch an? (Ich habe natürlich ein anderes Widmungsexemplar.)
Und wenn die Widmung vielleicht einen kleinen Nebensinn hat (den sie tatsächlich
nicht hat, den ich aber jetzt hineinlege), dass Max auch mein Freund
ist und dass daher auch diese Widmung mir die Möglichkeit gibt,
ganz nahe neben Dich hinzutreten (die imaginärste Möglichkeit
zu solchem Hintreten will ich ausnützen), wäre das so arg?
Nein, es ist schon wirklich zu spät, um fortzusetzen. Nur noch einen
Heller lege ich bei, den ich auf dem heutigen Abendspaziergang gefunden
habe. Ich klagte gerade über etwas (es gibt nichts, worüber ich
nicht klagen könnte), trat in meiner Unzufriedenheit etwas stärker
auf und stöberte dabei mit der Fußspitze diesen Heller auf dem
Pflaster auf. Solche Heller bringen Glück, aber ich brauche kein Glück,
das Du nicht auch hast, und deshalb schicke ich es Dir. Ist es denn nicht
auch so, wie wenn Du ihn gefunden hättest, da ich ihn gefunden habe?
Franz
Präsidenten: Der Präsident der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt
war damals Dr. Otto Přibram. Mit Ewald Přibram, einem Sohn des
Präsidenten, war Kafka gegen Ende seiner Gymnasial- und während
seiner Universitätszeit befreundet. Vgl. Kafkas Brief vom 10. Zum
11. März 1913, S. 333.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at