Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

vom 8. zum 9.1.12 [1913]
 


Ich habe heute aus verschiedenen Gründen statt zu schreiben einen Spaziergang mit jenem Dr. Weltsch gemacht, nachdem ich 1½ Stunden inmitten seiner Familie gesessen bin und mir von seinem Vater, einem für alles interessierten, klugen Menschen, er ist kleiner Tuchhändler, viele alte, schöne Geschichtchen aus der frühem Prager Judenstadt, aus den Zeiten seines Großvaters, der noch ein großer Tuchhändler gewesen ist, habe erzählen lassen. Ich mußte mit fremden Menschen beisammen sein und dabei war mir doch in ihrer Gegenwart nicht wohl. Dieser Widerspruch äußert sich bei mir immer darin, dass ich denjenigen, der mir etwas erzählt, nicht fest anschauen kann, der Blick gleitet mir, wenn ich ihn gewähren lasse, von dem fremden Gesichte ab und kämpfe ich dagegen an, wird es natürlich kein fester, sondern ein starrer Blick. Aber will ich denn den ganzen Abend beschreiben? Nein, aber aus dem ungeheuern Wust des zu Sagenden drängt sich dem ein wenig stumpfen Sinn nur Willkürliches und Nebensächliches hervor. Es scheint mir überhaupt, als hätte ich Dir in den letzten Tagen so wenig, selbst von dem Dringendsten erzählt und geantwortet, dass ich manchmal das Gefühl habe, als sei ich im Begriff, Deines Zuhörens verlustig zu werden. Das darf nicht sein, Felice. Deute mein Nichtantworten auf einzelne Fragen nicht schlecht, nicht zu meinen Ungunsten, diese Wellen, die mich tragen, sind dunkles, trübes, schweres Wasser, ich komme langsam vorwärts und bleibe auch stecken, aber dann treibt es mich doch wieder weiter und es geht ganz gut. Du mußt es doch schon bemerkt haben in unserem ersten Vierteljahr.

Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran, ich bin sogar als großer Lacher bekannt, doch war ich in dieser Hinsicht früher viel närrischer als jetzt. Es ist mir sogar passiert, dass ich in einer feierlichen Unterredung mit unserem Präsidenten - es ist schon zwei Jahre her, wird aber in der Anstalt als Legende mich überleben - zu lachen angefangen habe; aber wie! Es wäre zu umständlich, Dir die Bedeutung dieses Mannes darzustellen, glaube mir also, dass sie sehr groß ist, und dass ein normaler Anstaltsbeamter sich diesen Mann nicht auf der Erde, sondern in den Wolken vorstellt. Und da wir im allgemeinen nicht viel Gelegenheit haben mit dem Kaiser zu reden, so ersetzt dieser Mann dem normalen Beamten - ähnlich ist es ja in allen großen Betrieben - das Gefühl einer Zusammenkunft mit dem Kaiser. Natürlich haftet auch diesem Mann, wie jedem in ganz klare allgemeine Beobachtung gestellten Menschen, dessen Stellung nicht ganz dem eigenen Verdienste entspricht, genug Lächerlichkeit an, aber sich durch eine solche Selbstverständlichkeit, durch diese Art Naturerscheinung, gar in der Gegenwart des großen Mannes zum Lachen verleiten lassen, dazu muß man schon gottverlassen sein. Wir - zwei Kollegen und ich - waren damals gerade zu einem höhern Rang erhoben worden und hatten uns in feierlichem schwarzen Anzug beim Präsidenten zu bedanken, wobei ich nicht zu sagen vergessen darf, dass ich aus besonderem Grunde dem Präsidenten von vornherein zu besonderem Dank verpflichtet bin. Der würdigste von uns dreien - ich war der jüngste - hielt die Dankrede, kurz, vernünftig, schneidig, wie das seinem Wesen entsprach. Der Präsident hörte in seiner gewöhnlichen, bei feierlicher Gelegenheit gewählten, ein wenig an die Audienzhaltung unseres Kaisers erinnernden, tatsächlich (wenn man will und nicht anders kann) urkomischen Stellung zu. Die Beine leicht gekreuzt, die linke Hand zur Faust geballt auf die äußerste Tischecke gelegt, den Kopf gesenkt, so dass sich der weiße Vollbart auf der Brust einbiegt und zu alledem den nicht allzu großen aber immerhin vortretenden Bauch ein wenig schaukelnd. Ich muß damals in einer sehr unbeherrschbaren Laune gewesen sein, denn diese Stellung kannte ich schon zur Genüge und es war gar nicht nötig, dass ich, allerdings mit Unterbrechungen, kleine Lachanfälle bekam, die sich aber noch leicht als Hustenreiz erklären ließen, zumal der Präsident nicht aufsah. Auch hielt mich die klare Stimme meines Kollegen, der nur vorwärts blickte und meinen Zustand wohl bemerkte, ohne sich aber von ihm beeinflussen zu lassen, noch genug im Zaum. Da hob aber der Präsident nach Beendigung der Rede meines Kollegen das Gesicht und nun packte mich für einen Augenblick ein Schrecken ohne Lachen, denn nun konnte er ja auch meine Mienen sehn und leicht feststellen, dass das Lachen, das mir zu meinem Leidwesen aus dem Munde kam, durchaus kein Husten war. Als er aber seine Rede anfing, wieder diese übliche, längst vorher bekannte, kaiserlich schematische, von schweren Brusttönen begleitete, ganz und gar sinnlose und unbegründete Rede, als mein Kollege durch Seitenblicke mich, der ich mich ja gerade zu beherrschen suchte, warnen wollte und mich gerade dadurch lebhaft an den Genuß des frühern Lachens erinnerte, konnte ich mich nicht mehr halten und alle Hoffnung schwand mir, dass ich mich jemals würde halten können. Zuerst lachte ich nur zu den kleinen hie und da eingestreuten zarten Späßchen des Präsidenten; während es aber Gesetz ist, dass man zu solchen Späßchen nur gerade in Respekt das Gesicht verzieht, lachte ich schon aus vollem Halse, ich sah, wie meine Kollegen aus Furcht vor Ansteckung erschraken, ich hatte mit ihnen mehr Mitleid als mit mir, aber ich konnte mir nicht helfen, dabei suchte ich mich nicht etwa abzuwenden oder die Hand vorzuhalten, sondern starrte immerzu dem Präsidenten in meiner Hilflosigkeit ins Gesicht, unfähig das Gesicht wegzuwenden, wahrscheinlich in einer gefühlsmäßigen Annahme, dass nichts besser, alles nur schlechter werden könne und dass es daher am besten sei, jede Veränderung zu vermeiden. Natürlich lachte ich dann, da ich nun schon einmal im Gange war, nicht mehr bloß über die gegenwärtigen Späßchen, sondern auch über die vergangenen und die zukünftigen und über alle zusammen, und kein Mensch wußte mehr, worüber ich eigentlich lache; eine allgemeine Verlegenheit fing an, nur der Präsident war noch verhältnismäßig unbeteiligt, als großer Mann, der an vielerlei in der Welt gewöhnt ist, und dem übrigens die Möglichkeit der Respektlosigkeit vor seiner Person gar nicht eingehn kann. Wenn wir in diesem Zeitpunkt herausgeschlüpft wären, der Präsident kürzte auch vielleicht seine Rede ein wenig ab, wäre noch alles ziemlich gut abgelaufen, mein Benehmen wäre zwar zweifellos unanständig gewesen, diese Unanständigkeit wäre aber nicht offen zur Sprache gekommen und die Angelegenheit wäre, wie dies mit solchen scheinbar unmöglichen Dingen öfters geschieht, durch stillschweigendes Übereinkommen unserer vier, die wir beteiligt waren, erledigt gewesen. Nun fing aber zum Unglück der bisher nicht erwähnte Kollege (ein fast 40jähriger Mann mit rundem kindischen aber bärtigen Gesicht, dabei ein fester Biertrinker) eine kleine, ganz unerwartete Rede an. Im Augenblick war es mir vollständig unbegreiflich, er war ja schon durch mein Lachen ganz aus der Fassung gebracht gewesen, hatte mit vor verhaltenem Lachen aufgeblähten Wangen dagestanden und - jetzt fing er eine ernste Rede an. Nun war das aber bei ihm gut verständlich. Er hat ein so leeres, hitziges Temperament, ist imstande, von allen anerkannte Behauptungen leidenschaftlich endlos zu vertreten, und die Langweile dieser Reden wäre ohne das Lächerliche und Sympathische ihrer Leidenschaft unerträglich. Nun hatte der Präsident in aller Harmlosigkeit irgendetwas gesagt, was diesem Kollegen nicht ganz paßte, außerdem hatte er, vielleicht durch den Anblick meines schon ununterbrochenen Lachens beeinflußt, ein wenig daran vergessen, wo er sich befand, kurz er glaubte, es sei der richtige Augenblick gekommen, mit seinen besondern Ansichten hervorzutreten und den (gegen alles, was andere reden, natürlich zum Tode gleichgültigen) Präsidenten zu überzeugen. Als er also jetzt mit schwingenden Handbewegungen etwas (schon im allgemeinen und hier insbesondere) Läppisches daherredete, wurde es mir zu viel, die Welt, die ich bisher immerhin im Schein vor den Augen gehabt hatte, verging mir völlig und ich stimmte ein so lautes, rücksichtsloses Lachen an, wie es vielleicht in dieser Herzlichkeit nur Volksschülern in ihren Schulbänken gegeben ist. Alles verstummte und nun war ich endlich mit meinem Lachen anerkannter Mittelpunkt. Dabei schlotterten mir natürlich vor Angst die Knie während ich lachte, und meine Kollegen konnten nun ihrerseits nach Belieben mitlachen, die Gräßlichkeit meines so lange vorbereiteten und geübten Lachens erreichten sie ja doch nicht und blieben vergleichsweise unbemerkt. Mit der rechten Hand meine Brust schlagend, zum Teil im Bewußtsein meiner Sünde (in Erinnerung an den Versöhnungstag), zum Teil, um das viele verhaltene Lachen aus der Brust herauszutreiben, brachte ich vielerlei Entschuldigungen für mein Lachen vor, die vielleicht alle sehr überzeugend waren, aber infolge neuen, immer dazwischenfahrenden Lachens gänzlich unverstanden blieben. Nun war natürlich selbst der Präsident beirrt, und nur in dem solchen Leuten schon mit allen seinen Hilfsmitteln eingeborenen Gefühl alles möglichst abzurunden, fand er irgendeine Phrase, die meinem Heulen irgendeine menschliche Erklärung gab, ich glaube eine Beziehung zu einem Spaß, den er vor langer Zeit gemacht hatte. Dann entließ er uns eilig. Unbesiegt, mit großem Lachen, aber todunglücklich stolperte ich als erster aus dem Saal. - Die Sache ist ja durch einen Brief, den ich dem Präsidenten gleich danach schrieb, sowie durch Vermittlung eines Sohnes des Präsidenten, den ich gut kenne, endlich auch durch den Zeitverlauf zum größten Teil besänftigt worden, gänzliche Verzeihung habe ich natürlich nicht erlangt und werde sie auch nie erlangen. Aber daran liegt nicht viel, vielleicht habe ich es damals nur getan, um Dir später einmal beweisen zu können, dass ich lachen kann.

Nun habe ich aber - und so rächt sich die alte Schuld gegenüber dem Präsidenten neuerlich -. so viel geschrieben und nichts. Nur noch paar Antworten in letzter Eile vor dem Schlafengehn : [Brods] "Höhe des Gefühls" gehört natürlich Dir, ganz und gar Dir. Die Widmung "als Freund" ist ausdrücklich für Dich bestimmt, Du nimmst sie doch an? (Ich habe natürlich ein anderes Widmungsexemplar.) Und wenn die Widmung vielleicht einen kleinen Nebensinn hat (den sie tatsächlich nicht hat, den ich aber jetzt hineinlege), dass Max auch mein Freund ist und dass daher auch diese Widmung mir die Möglichkeit gibt, ganz nahe neben Dich hinzutreten (die imaginärste Möglichkeit zu solchem Hintreten will ich ausnützen), wäre das so arg?

Nein, es ist schon wirklich zu spät, um fortzusetzen. Nur noch einen Heller lege ich bei, den ich auf dem heutigen Abendspaziergang gefunden habe. Ich klagte gerade über etwas (es gibt nichts, worüber ich nicht klagen könnte), trat in meiner Unzufriedenheit etwas stärker auf und stöberte dabei mit der Fußspitze diesen Heller auf dem Pflaster auf. Solche Heller bringen Glück, aber ich brauche kein Glück, das Du nicht auch hast, und deshalb schicke ich es Dir. Ist es denn nicht auch so, wie wenn Du ihn gefunden hättest, da ich ihn gefunden habe?


Franz




Präsidenten: Der Präsident der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war damals Dr. Otto Přibram. Mit Ewald Přibram, einem Sohn des Präsidenten, war Kafka gegen Ende seiner Gymnasial- und während seiner Universitätszeit befreundet. Vgl. Kafkas Brief vom 10. Zum 11. März 1913, S. 333.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at