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[Stempel: Venezia 16.9.1913]

[An.] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Auf dem Umschlagrücken gedruckt: Hotel Sandwirth, Venedig]

[Briefkopf: Abgeordnetenhaus (Wien)]

16 IX 13
 

Mein lieber Max

ich bin nicht imstande zusammenhängend etwas Zusammenhängendes zu schreiben. Die Tage in Wien möchte ich aus meinem Leben am liebsten ausreißen und zwar von der Wurzel aus, es war ein nutzloses Jagen und etwas Nutzloseres als ein solcher Kongreß läßt sich schwer ausdenken. Im Zionistischen Kongreß bin ich wie bei einer gänzlich fremden Veranstaltung dagesessen, allerdings war ich durch manches beengt und zerstreut gewesen (jetzt schaut mir ein Junge und ein schöner Gondelführer durch das Fenster herein) und wenn ich auch nicht gerade Papierkugeln auf die Delegierten hinuntergeworfen habe, wie ein Fräulein auf der gegenüberliegenden Galerie, trostlos genug war ich. Von der literarischen Gesellschaft weiß ich fast gar nichts, ich war nur 2 mal mit ihnen beisammen, auf einem gewissen Niveau imponieren mir alle, im Grunde gefällt mir keiner, außer vielleicht Stößinger, der gerade in Wien war und hübsch entschlossen spricht und dann E. Weiss, der wieder sehr zutunlich ist. Von Dir wurde viel gesprochen und während Du Dir vielleicht Tychonische Vorstellungen von diesen Leuten machst, saßen hier um den Tisch zufällig zusammengekommene Leute, die sämtlich Deine guten Freunde waren und immer wieder mit Bewunderung irgendeines Buches von Dir hervorbrachen. Ich sage nicht, dass es den geringsten Wert hat, ich sage nur, dass es so war. Davon kann ich Dir ja im einzelnen noch erzählen. Wenn einer aber Einwände hatte, dann kam es gewiß nur aus der allzugroßen Sichtbarkeit, an der Du für diese stumpfen Augen leidest.

    Aber das alles ist vorüber, jetzt bin ich in Venedig. Wäre ich nicht so schwer beweglich und traurig, selbständige Kräfte, um mich vor Venedig zu erhalten, hätte ich nicht. Wie es schön ist und wie man es bei uns unterschätzt! Ich werde hier länger bleiben, als ich dachte. Es ist gut, dass ich allein bin. Die Literatur, die mir schon lange nichts Gutes erwiesen hat, hat sich wieder an mich erinnert, als sie den P. in Wien zurückhielt. Meiner bisherigen Erfahrung nach kann ich nur mit Dir reisen oder, viel schlechter, aber doch immerhin, allein. Grüße alle.

Franz        



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


ein solcher Kongreß: D. i. der "Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung" (siehe Anm. oben).


ein Fräulein: Lise Weltsch. Siehe F 464 f. und vgl. 1909 Anm. 19.


der litterarischen Gesellschaft: Zu dieser Zeit war die polemische Kontroverse zwischen Karl Kraus und Max Brod in vollem Gange. Hierzu und zu anderen Aspekten der damaligen Wiener Literaturszene siehe Hannelore Rodlauer, "Kafka und Wien", Anzeiger der phil.-bist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1985, So.10, S. 209-233.


Stößinger: Der aus Prag stammende Schriftsteller Felix Stößinger (1889-1954). Später hat er - wie Kafka- zum Sammelband Das jüdische Prag, Prag: Verlag der Selbstwehr 1917, beigetragen.


E. Weiß: Kafkas Freundschaft mit dem Romanschriftsteller Ernst Weiß (1882-1940), die sich von diesem Zeitpunkt an entwickelte, hatte für ihn sowohl in literarischer als auch in persönlicher Hinsicht - Weiß hat ihm stets von einer Ehe mit Felice Bauer abgeraten - große Bedeutung. Siehe hierzu Br und F passim.


Tychonische Vorstellungen: Gemeint ist vor allem die Vorstellung, dass Tycho Brahe "förmlich von Feinden umringt" sei (Max Brod, Tycho Brabes Weg zu Gott, München: Kurt Wolff 1915, S. 80).


den P. : Otto Pick, der Kafka auf der Hinfahrt nach Wien begleitet hatte. Dazu hatte Kafka schon festgehalten: "Dummes Literaturgeschwätz mit Pick. Ziemlicher Widerwillen" (F 463).


Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at