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[Prag, Tagebuch 30. August 1912; Freitag]

30. August     Die ganze Zeit nichts gemacht. Besuch des Onkels aus Spanien. Vorigen Samstag recitierte Werfel im Arco die "Lebenslieder" und das "Opfer". Ein Ungeheuer! Aber ich sah ihm in die Augen und hielt seinen Blick den ganzen Abend.

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Ich werde schwer aufzuschütteln sein und bin doch unruhig. Als ich heute nachmittag im Bett lag und jemand einen Schlüssel im Schloß rasch umdrehte, hat ich einen Augenblick lang Schlösser auf dem ganzen Körper wie auf einem Kostümball und in kurzen Zwischenräumen wurde einmal hier einmal dort ein Schloß geöffnet oder zugesperrt.

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Umfrage der Zeitschrift "Miroir" über die Liebe in der Gegenwart und über die Veränderungen der Liebe seit der Zeit unserer Großeltern. Eine Schauspielerin antwortete: Niemals hat man so gut geliebt wie heutzutage.

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Wie zerworfen und erhoben ich nach dem Anhören von Werfel war! Wie ich mich nachher geradezu wild und ohne Fehler in die Gesellschaft bei den Löwyschen hinlegte.

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Diesen Monat, der wegen der Abwesenheit meines Chefs besonders gut hätte benützt werden können, habe ich ohne viel Rechtfertigung (Absendung des Buches an Rohwolt, Abcesse, Besuch des Onkels) vertrödelt und verschlafen. Noch heute nachmittag habe ich mich mit träumerischen Entschuldigungen 3 Stunden auf dem Bett gedehnt.


Onkels aus Spanien: Alfred Löwy (1852 - 1923), ein Bruder Julie Kafkas, war Direktor einer spanischen Eisenbahngesellschaft und lebte in Madrid.
Werfel: Im Mai erschien der Gedichtband "Wir sind" von Franz Werfel. Dieser Gedichtband enthält unter anderem "Ein Lebenslied" sowie das dramatische Gedicht "Das Opfer". "Das Opfer" erschien auch im Jahrbuch für Dichtkunst "Arkadia", das Max Brod herausgab.
Miroir: Im Rahmen der Antworten auf die Umfrage "Où en est l'Amour?" veröffentlichte "Le Miroir" (Sonntags-Supplement des "Petit Parisien") u.a. die mit einem Zitat versehene Photographie der Schauspielerin Louise Silvain: "Jamais on n'aima tant ni si bien qu'à notre époque (...)" ("Le Miroir" vom 4 August 1912; Nr. 19, S. 8).
Löwyschen: Vielleicht ein Familientreffen bei Julie Kafkas in Prag lebenden Bruder Richard Löwy (1857 - 1938), anläßlich des Besuches von Alfred Löwy aus Madrid.
Rohwolt: Rowohlt-Verlag. Falsche Schreibweise in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at