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[Tagebuch, 4. Februar 1912; Sonntag]

4. II 12 Vor 3 Tagen Wedekind: Erdgeist.

Wedekind und seine Frau Tilly spielen mit. Klare gestochene Stimme der Frau. Schmales mondsichelförmiges Gesicht. Der beim ruhigen Stehn sich seitlich abzweigende Unterschenkel. Klarheit des Stückes auch im Rückblick, so dass man ruhig und selbstbewußt nachhause geht. Widersprechender Eindruck des durchaus festgegründeten und doch fremdbleibenden.

Als ich damals ins Teater gieng, war mir wohl. Wie Honig schmeckte ich mein Inneres. Trank es in ununterbrochenem Zug. Im Teater vergieng es gleich. Es war übrigens der vorige Teaterabend: "Orpheus in der Unterwelt" mit Pallenberg. Die Aufführung war so schlecht, Beifall und Lachen um mich im Stehparterre so groß, dass ich mir nur dadurch zu helfen wußte, dass ich nach dem 2. Akt weglief und dadurch alles zum Schweigen brachte.

Vor-Gestern guten Brief nach Trautenau wegen eines Gastspiels von Löwy geschrieben. Jedes Lesen des Briefes beruhigte und stärkte mich, so sehr war darin unausgesprochener Bezug auf alles Gute in mir genommen.

Der mich ganz durchgehende Eifer mit dem ich über Goethe lese (Goethes Gespräche, Studentenjahre, Stunden mit Goethe, Ein Aufenthalt Goethes in Frankfurt) und der mich von jedem Schreiben abhält.

Schmerler, Kaufmann, 32 Jahre alt, konfessionslos, philosophisch gebildet, für schöne Litteratur hauptsächlich nur soweit interessiert, als sie sein Schreiben betrifft. Runder Kopf, schwarze Augen, kleiner energischer Schnurrbart, festes Wangenfleisch, gedrungene Gestalt. Studiert seit Jahren von 9 Uhr bis 1 Uhr in der Nacht. Gebürtig aus Stanislau, Kenner des Hebräischen und des Jargon. Verheirathet mit einer Frau, die nur durch die ganz runde Gesichtsform den Eindruck der Beschränktheit macht.

Seit zwei Tagen Kühle gegen Löwy. Er fragt mich danach. Ich leugne es.

Ruhiges, zurückgezogenes Gespräch mit Fräulein T. im Zwischenakt des Erdgeist auf der Gallerie. Man muß förmlich, um ein gutes Gespräch zu erreichen die Hand tiefer, leichter, verschlafener unter den zu behandelnden Gegenstand schieben, dann hebt man ihn zum Erstaunen. Sonst knickt man sich die Finger ein und denkt an nichts als an die Schmerzen.

Geschichte: Die Abendspaziergänge. (Erfindung des raschen Gehns) Einleitendes schönes dunkles Zimmer.

Frl. T. erzählte von einer Szene ihrer neuen Geschichte, in welcher einmal in die Nähschule ein Mädchen mit schlechtem Ruf eintritt. Der Eindruck auf die andern Mädchen. Ich meine, bedauern werden sie diejenigen, welche die Fähigkeit und Lust, zu schlechtem Ruf zu kommen, deutlich in sich fühlen und damit zugleich unmittelbar sich vorstellen können, in was für ein Unglück sich zu stürzen, das bedeutet.

Vor einer Woche Vortrag Dr. Theilhaber im Festsaal des Jüdischen Rathauses über den Untergang der deutschen Juden. Er ist unaufhaltbar denn 1.) sammeln sich die Juden in den Städten, die jüdischen Landgemeinden verschwinden. Das Streben nach Gewinn verzehrt sie. Ehen werden nur mit Rücksicht auf die Versorgung der Braut geschlossen. 2 Kindersystem

2. Mischehen 3.) Taufen

Komische Szenen, als Prof. Ehrenfels, der immer schöner wird und dem sich im Licht der kahle Kopf in einer gehauchten Kontur nach oben abgrenzt, die Hände an einander gelegt und gegenseitig drückend, mit seiner vollen wie bei einem Musikinstrument modulierten Stimme, vor Vertrauen zur Versammlung lächelnd für Mischrassen sich einsetzt

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at