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[Tagebuch, 24. Januar 1912; Mittwoch]

24 I 12 Mittw. Aus folgenden Gründen solange nicht geschrieben: Ich war mit meinem Chef bös und brachte das erst durch einen guten Brief ins Reine; war mehrere Male in der Fabrik; las Pinez "L'histoire de la litterature judeo-allemande" 500 S. undzwar gierig, wie ich es mit solcher Gründlichkeit, Eile und Freude bei ähnlichen Büchern noch niemals getan habe; jetzt lese ich Fromer "Organismus des Judentums"; endlich hatte ich mit den jüdischen Schauspielern viel zu tun, schrieb für sie Briefe, habe beim zionistischen Verein durchgesetzt, dass die z. Vereine Böhmens befragt werden, ab sie Gastspiele der Truppe haben wollen, das nötige Rundschreiben habe ich geschrieben und vervielfältigen lassen; habe noch einmal Sulamit gesehn und einmal Herzele Meliches von Richter, war beim Volksliederabend des Vereins Bar Kochba und vorgestern beim "Graf von Gleichen" von Schmidtbonn.

Volksliederabend: Dr. Nathan Birnbaum hält den Vortrag. Ostjüdische Gewohnheit, wo die Rede stockt, "meine verehrten Damen und Herren" oder nur "meine Verehrten" einzufügen. Wiederholt sich am Anfang der Rede Birnbaums zum Lächerlichwerden. Soweit ich aber Löwy kenne glaube ich dass solche ständigen Wendungen, die auch im gewöhnlichen ostjüdischen Gespräch oft vorkommen wie "Weh ist mir!" oder "S'ist nischt" oder "S'ist viel zu reden" nicht Verlegenheit verdecken sollen, sondern als immer neue Quellen den für das ostjüdische Temperament immer noch zu schwer daliegenden Strom der Rede umquirlen sollen. Bei Birnbaum aber nicht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at