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[Reisetagebuch Weimar-Jungborn, 14. Juli 1912; Sonntag]

14 (Juli 1912) Kirschen gepflückt auf der Leiter mit Körbchen. Hoch im Baum oben gewesen. Vormittag Gottesdienst an den Eckerplätzen. Der ambrosianische Lobgesang. Nachmittag die 2 Freunde nach Ilsenburg geschickt. - Ich liege im Gras, da geht der aus der "Christl. Gemeinschaft" (lang, schöner Körper, braungebrannt, spitzer Bart, glückliches Aussehn) von seinem Studierplatz in die Ankleidehütte, ich folge ihm nichtsahnend mit den Augen, er kommt aber, statt auf seinen Platz zurückzukehren, auf mich zu, ich schließe die Augen, er stellt sich aber schon vor: Hitzer, Landvermesser, und gibt mir 4 Schriftchen als Sonntagslektüre. Im Weggehn spricht er noch von "Perlen" und "vorwerfen" womit er andeuten will, dass ich die Schriften dem Dr. Schiller nicht zeigen soll. Es sind "der verlorene Sohn", "Erkauft oder Nicht mehr mein (für ungläubige Gläubige)" mit kleinen Geschichten, "Warum kann der Gebildete nicht der Bibel glauben?" und "Hoch die Freiheit! aber: Was ist wahre Freiheit?" Ich lese ein wenig und gehe dann zu ihm zurück und versuche, unsicher durch den Respekt, den ich vor ihm habe, ihm klarzumachen, warum gegenwärtig keine Aussicht auf Gnade für mich besteht. Darauf redet er 1½ Stunden zu mir (gegen Schluß gesellt sich ein alter weißhaariger, magerer, rotnasiger Herr im Leintuch mit einigen undeutlichen Bemerkungen zu uns) mit schöner nur aus Wahrhaftigkeit möglicher Beherrschung jedes Wortes. Der unglückliche Goethe, der soviel Existenzen unglücklich gemacht hat. Viele Geschichten. Wie er, Hitzer, dem Vater das Wort verbot, als er in seinem Hause Gott lästerte. "Mögest Du Vater darüber entsetzt sein und vor Schrecken nicht weiter reden, mir ist es recht." Wie der Vater Gottes Stimme auf dem Sterbebette hörte. - Er sieht mir an dass ich nahe an der Gnade bin. - Wie ich selbst alle seine Beweise abbreche und ihn an die innere Stimme verweise. Gute Wirkung. -

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at