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[Reisetagebuch Weimar-Jungborn, 7. Juli 1912; Sonntag]

7. Juli (1912)

27 Nr. des Packträgers in Halle. - Jetzt ½7 in der Nähe des Gleimdenkmals auf die schon lange gesuchte Bank niedergefallen. Wäre ich ein Kind, so müßte ich mich abtransportieren lassen, so schmerzen mich die Beine. - Nach dem Abschied von Dir mich noch lange nicht allein gefühlt. Und dann wieder so dumpf geworden, dass es noch kein Alleinsein war. - Halle, kleines Leipzig. Diese Kirchenturmpaare hier und in Halle, die durch kleine Holzbrücke oben am Himmel verbunden sind. - Schon das Gefühl, dass Du diese Sachen nicht gleich sondern erst später lesen wirst, macht mich so unsicher. - Der Radfahrklub, der sich am Markt in Halle zu einem Ausflug versammelt. Die Schwierigkeit allein eine Stadt oder auch nur eine Gasse anzusehn. - Gutes vegetarisches Mittagessen. Zum Unterschied von den sonstigen Gastwirten schlägt gerade den veg. Wirten das Vegetarische nicht gut an. Ängstliche Leute, die von der Seite an einen herankommen.

Fahrt von Halle mit 4 Prager Juden: zwei angenehmen lustigen ältern starken Männern, einer dem Dr. Klemens ähnlich, einer meinem Vater nur viel kleiner, dann ein schwacher, von der Hitze hingeschlagener junger Ehemann und seine abscheuliche gutgebaute junge Frau, deren Gesicht irgendwie aus der Selcherfamilie Berg herkommt. Sie liest einen 3 M Ullstein Roman von Ida-Boy-Ed, mit dem ausgezeichneten, wahrscheinlich von Ullstein erfundenen Titel "Ein Augenblick im Paradies". Ihr Mann fragt sie, wie es ihr gefällt. Sie hat aber erst angefangen, "Bis dato kann man nichts sagen." Ein guter Deutscher mit trockener Haut und schön über Wangen und Kinn verteiltem weißlich blonden Bart nimmt an allem, was bei den 4 vorgeht, einen merkwürdig freundlichen Anteil. -

Eisenbahnhotel, Zimmer unten an der Straße mit einem Gärtchen davor. Wer will kann im Vorübergehn, mich im Zimmer alle meine Geschäfte nackt besorgen sehn. Weg in die Stadt. Eine ganz und gar alte Stadt. Fachwerkbau scheint die für die größte Dauer berechnete Bauart zu sein. Die Balken verbiegen sich überall, die Füllung sinkt ein oder baucht sich aus, das Ganze bleibt und fällt höchstens mit der Zeit ein wenig zusammen und wird dadurch noch fester. So schön habe ich Menschen in den Fenstern noch nicht lehnen sehn. Meist sind auch die Mittelleisten der Fenster festgemacht. Man legt die Schulter an sie, Kinder drehn sich um sie. In einem tiefen Flur sitzen auf den ersten Stufen starke Mädchen, in ihren Sonntagskleidern ausgebreitet.

Drachenweg. Katzenplan.

Im Park mit kleinen Mädchen auf einer Bank, die wir als Mädchenbank gegen Jungen verteidigen. Polnische Juden. Die Kinder rufen ihnen Itzig zu und wollen sich nach ihnen nicht gleich auf die Bank setzen. Jüdische Gastwirtschaft Nathan Eisellsberg mit hebräischer Aufschrift. Es ist ein verwahrlostes schloßartiges Gebäude mit großem Treppenaufbau, das aus engen Gassen frei hervortritt. Ich gehe hinter einem Juden, der aus der Wirtschaft kommt, und spreche ihn an. Nach 9. Ich will etwas über die Gemeinde wissen. Erfahre nichts. Bin ihm zu verdächtig. Immerfort schaut er auf meine Füße. Aber ich bin doch auch Jude. Dann kann ich bei Eiselsberg logieren. - Nein ich habe schon eine Wohnung. - So. - Plötzlich geht er nahe an mich heran. Ob ich nicht vor 1 Woche in Schöppenstedt gewesen bin. Vor seinem Haustor verabschieden wir uns; er ist glücklich, dass er mich losgeworden ist; ohne dass ich danach frage, sagt er mir noch, wie man zur Synagoge geht. - Leute im Schlafrock auf der Türstufe. Alte sinnlose Inschriften. Die Möglichkeiten durchdacht, auf diesen Gassen, Plätzen, Gartenbänken, Bachufern aus dem Vollen unglücklich zu sein. Wer weinen kann, soll am Sonntag herkommen. Abend nach 5 stündigem Herumgehn in meinem Hotel auf der Terasse vor einem kleinen Gärtchen. Am Tisch nebenan die Wirtsleute mit einer jungen, witwenhaft aussehenden, lebhaften Frau. Wangen unnötig mager. Frisur geteilt und aufgebauscht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at