Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Reisetagebuch Weimar-Jungborn, 6. Juli 1912; Samstag]

Samstag 6 Juli (1912) - Zu Schlaf. Alte ihm ähnliche Schwester empfängt uns. Er ist nicht zuhause. Wir kommen abend wieder. - Einstündiger Spaziergang mit Grete. Sie kommt scheinbar im Einverständnis mit ihrer Mutter, mit der sie noch von der Gasse aus durchs Fenster spricht. Rosa Kleid, mein Herzchen. Unruhe wegen des großen Balles am Abend. Ohne jede Beziehung zu ihr gewesen. Abgerissenes, immer wieder angegangenes Gespräch. Einmal besonders rasches, dann wieder besonders langsames Gehn. Anstrengung, um keinen Preis deutlich werden zu lassen, wie wir mit keinem Fädchen zusammenhängen. Was treibt uns gemeinsam durch den Park? Nur mein Trotz? - Gegen Abend bei Schlaf. Vorher Besuch bei Grete. Sie steht vor der ein wenig geöffneten Küchentür in dem lange vorher gepriesenen Ballkleid, das gar nicht so schön ist, wie ihr gewöhnliches. Schwer verweinte Augen, offenbar wegen ihres Haupttänzers, der ihr schon überhaupt viel Sorgen gemacht hat. Ich verabschiede mich für immer. Sie weiß es nicht und wenn sie es wüßte, läge ihr auch nichts daran. Ein Weib, das Rosen bringt, stört noch den kleinen Abschied. - Auf den Gassen von allen Seiten Tanzstundenherren und -damen. - Schlaf. Wohnt nicht gerade in einer Dachstube, wie es Ernst, der mit ihm zerfallen ist, uns einreden wollte. Lebhafter Mann, den starken Oberkörper von einem fest zugeknöpften Rock umspannt. Nur die Augen zucken nervös und krank. Spricht hauptsächlich von Astronomie und seinem geocentrischen System. Alles andere Litteratur, Kritik, Malerei hängt nur noch so an ihm weil er es nicht abwirft. Weihnachten wird sich übrigens alles entscheiden. Er zweifelt an seinem Sieg nicht im Geringsten. Max sagt, seine Lage gegenüber den Astronomen sei "der Lage Goethes gegenüber den Optikern ähnlich." "Ähnlich" antwortet er immer mit Handgriffen auf dem Tisch, "aber viel günstiger, denn ich habe unbestreitbare Tatsachen für mich." Sein kleines Fernrohr für 400 M. Zu seiner Entdeckung braucht er es gar nicht, auch Matematik nicht. Er lebt in vollem Glück. Sein Arbeitsgebiet ist endlos, da seine Entdeckung einmal anerkannt, ungeheuere Folgen in allen Gebieten (Religion, Ethik, Ästhetik u. s. w.) haben wird und er natürlich zuerst zu ihrer Bearbeitung berufen ist. - Als wir kamen, hat er gerade Besprechungen die anläßlich seines 50ten Geburtstages erschienen waren, in ein großes Buch geklebt. "Bei solchen Gelegenheiten machen sie es milde." - Vorher Spaziergang mit Paul Ernst im Webbich. Seine Verachtung unserer Zeit, Hauptmanns, Wassermanns, Thomas Manns. Ohne Rücksicht auf unsere mögliche Meinung wird Hauptmann in einem kleinen Nebensatz, den man erst lange nachdem er ausgesprochen ist, auffaßt, ein Schmierer genannt. Sonst vage Äußerungen über Juden, Zionismus, Rassen u. s. w., in allem nur bemerkenswert, dass es ein Mann ist, der seine ganze Zeit mit allen Kräften gut angewendet hat. - Trockenes, automatisches "Ja, ja" in kleinen Zwischenräumen, wenn der andere spricht. Einmal gieng es so weit, dass ich es nicht mehr glaubte. -

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at