Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

Nacht vom 30. zum 31.XII.I2
 

Endlich, Liebste, höre ich von einem Spaziergang, den Du gemacht hast, und bin glücklich. Ist es nicht seit Monaten die erste im Freien verbrachte Stunde gewesen? Ist Dir wirklich ganz wohl bei diesem an den Nerven reißenden Leben? Jetzt bin ich merkwürdig ruhig und es scheint nicht einmal nur Müdigkeit zu sein. Heute früh aber, ehe Dein zweiter Brief kam, war ich wie in einem Wirbel. Ohne auffindbaren Grund, gewiß. Es ist eben dieses, dass man schreibt, sich im Augenblick beieinander fühlt, sich festzuhalten meint und doch nur in der Luft tastet und deshalb zeitweise stürzen muß. Aber Liebste, nicht wahr, wir verlassen einander nicht, und fällt der eine, hebt ihn der andere auf. Dieses Frl. Lindner erschien mir in Deinem Brief wie mein Strafgericht; ohne mir bisher geschrieben zu haben, fühle ich ihren Vorwurf stark genug. Liebste, Du hast mir jetzt Deine Liebe durch lange Briefe gezeigt, zeig sie mir jetzt durch kurze. Schreib nicht bei irgendeiner Kerze, wenn das elektr. Licht abgedreht ist, der Gedanke nimmt mir den Atem vor Sorge. Nun arbeitest Du auch in der Wirtschaft, nun leidest Du unter den Eltern, nun weinst Du über Deine Schwester in Budapest - ja wenn ich ganz bei Dir wäre und diese Sorgen unsere jeden Augenblick gemeinsamen Sorgen wären, dann wäre mir wohl. Jetzt aber sitze ich hier allein (die Uhr tickt mir in der Rocktasche noch immer viel zu stark, ich verstecke sie dort wegen ihres starken Schlages) und zermartere mir den Kopf nach einem Mittel, wie Dir und mir zu helfen wäre.

Warum zwingt Dir eigentlich ein Brief von Deiner Schwester Tränen ab? Was fehlt ihr denn? Hat sie Heimweh? Nur Heimweh? Aber sie hat doch ihren Mann und das Kind. Und in Budapest wird doch von einigen 100.000 Menschen deutsch gesprochen, und in 2 Jahren kann und wird sie doch ein wenig Ungarisch erlernt haben. Ist ihr Mann nicht bei ihr? Ist er vielleicht viel auf Reisen? Was ist der Hauptgrund ihrer Traurigkeit und Deines Mitgefühls? Übrigens fällt mir ein, dass sie vielleicht noch länger als zwei Jahre in Budapest ist, und noch immer also nicht eingewöhnt? Und dann hat sie eben doch das Kind, wo ist da Platz für Mitleid?

Du sagtest es ja selbst in Euerem Schreibmaschinenzimmer den sonderbaren Damen. Und ich hätte es - im klaren Bewußtsein, dass ich mich damit selbst aburteile - nicht anders gesagt, denn es sind Worte, die mir fortwährend auf der Zunge liegen und die ich öfters wiederhole, als gut ist. Gerade Sonntag nachmittag sagte mir Max bei einer ähnlichen Gelegenheit: "Du redest wie ein Mädchen." Aber das ist nicht ganz richtig, denn in einer guten Sammlung von Aussprüchen Napoleons, in die ich seit einiger Zeit immer wenn ich nur kann hineinschaue, wird dieser Ausspruch berichtet: "Es ist fürchterlich, kinderlos zu sterben", und wehleidig war er durchaus nicht; Freunde z. B. waren ihm, ob freiwillig oder durch Zwang, entbehrlich, einmal sagte er: "Ich habe keinen Freund außer Daru, der gefühllos und kalt ist und für mich paßt." Und in welche wahre Tiefe dieser Mensch zurückreichte, erkenne aus dieser Bemerkung: "Der wird nicht weit kommen, der von Anfang an weiß, wohin er geht." Man darf ihm also schon das Fürchterliche der Kinderlosigkeit glauben. Und das auf mich zu nehmen, muß ich mich bereit machen, denn von allem sonstigen abgesehen, dem Wagnis, Vater zu sein, würde ich mich niemals aussetzen dürfen.

Ich weiß nicht, wieso es kommt, seit paar Tagen laufen mir alle Briefe so ins Traurige aus. Solche Zeiten kommen und gehn, ich bitte Dich auf den Knien, sei mir nicht böse deshalb. Es fällt mir auch zu spät ein, dass der Brief am Neujahrsmorgen ankommt und dass er ein neues Jahr einleiten soll, das uns ganz und gar gehören soll. Ich habe dafür heute eine neue Verbindung zwischen uns herausgefunden. Ich werde einen Kalender mit schönen Bildern für jeden Tag kaufen und das Kalenderblatt des Ankunftstages meines Briefes Dir immer am Morgen in meinem Brief eingeschlossen auf Deinen Schreibtisch legen lassen. Ich werde dadurch allerdings für mich ein wenig der Zeit vorrücken und kalendermäßig den Tag, den Du erleben sollst, eigentlich schon durchlebt haben, aber trotzdem werden wir vor den gleichen Kalenderblättern leben, und das Leben wird mir dadurch lieber sein.

Wo wirst Du Sylvester sein? Tanzen? Champagner trinken? (Am Nachmittag hast Du im Grunewald Wein getrunken? Das doch nicht?) Ich wollte bei meinem Schreibtisch bleiben und den Roman weitertreiben (der heute noch an der gestrigen Unterbrechung leidet), nun bin ich aber eingeladen worden, zu Leuten, die ich gut leiden kann (die Familie des Onkels jenes Dr. Weltsch), und so zweifle ich, was ich tun soll; schließlich werde ich ja doch zuhause bleiben, glaube ich, wenn ich auch, seitdem ich Dein Täschchen habe, in jeder Gesellschaft aufzutreten fähig bin (die Hand in der Tasche und das Täschchen in der Hand). Aber die Versäumnis wäre zu arg, täte mir leid und außerdem warnen mich ganz ungewohnte Zuckungen und Muskelspiele im Kopf vor anzulangen Nachtwachen.

Nun Liebste, adieu, ein fröhliches neues Jahr meinem liebsten Mädchen; ein neues Jahr ist eben ein anderes Jahr, und wenn das alte uns auseinandergehalten hat, vielleicht treibt uns das neue Jahr mit Wundern und mit Gewalt zusammen. Treibe, treibe, neues Jahr!

Franz




Sammlung von Aussprüchen NapoleonsBerühmte Aussprüche und Worte Napoleons von Corsika bis St. Helena, gesammelt und herausgegeben von Robert Rehlen, Leipzig 1906.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at