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An Felice Bauer
Endlich, Liebste, höre ich von einem Spaziergang, den Du gemacht hast,
und bin glücklich. Ist es nicht seit Monaten die erste im Freien verbrachte
Stunde gewesen? Ist Dir wirklich ganz wohl bei diesem an den Nerven reißenden
Leben? Jetzt bin ich merkwürdig ruhig und es scheint nicht einmal
nur Müdigkeit zu sein. Heute früh aber, ehe Dein zweiter Brief
kam, war ich wie in einem Wirbel. Ohne auffindbaren Grund, gewiß.
Es ist eben dieses, dass man schreibt, sich im Augenblick beieinander
fühlt, sich festzuhalten meint und doch nur in der Luft tastet und
deshalb zeitweise stürzen muß. Aber Liebste, nicht wahr, wir
verlassen einander nicht, und fällt der eine, hebt ihn der andere
auf. Dieses Frl. Lindner erschien mir in Deinem Brief wie mein Strafgericht;
ohne mir bisher geschrieben zu haben, fühle ich ihren Vorwurf stark
genug. Liebste, Du hast mir jetzt Deine Liebe durch lange Briefe gezeigt,
zeig sie mir jetzt durch kurze. Schreib nicht bei irgendeiner Kerze, wenn
das elektr. Licht abgedreht ist, der Gedanke nimmt mir den Atem vor Sorge.
Nun arbeitest Du auch in der Wirtschaft, nun leidest Du unter den Eltern,
nun weinst Du über Deine Schwester in Budapest - ja wenn ich ganz
bei Dir wäre und diese Sorgen unsere jeden Augenblick gemeinsamen
Sorgen wären, dann wäre mir wohl. Jetzt aber sitze ich hier allein
(die Uhr tickt mir in der Rocktasche noch immer viel zu stark, ich verstecke
sie dort wegen ihres starken Schlages) und zermartere mir den Kopf nach
einem Mittel, wie Dir und mir zu helfen wäre.
Warum zwingt Dir eigentlich ein Brief von Deiner Schwester Tränen
ab? Was fehlt ihr denn? Hat sie Heimweh? Nur Heimweh? Aber sie hat doch
ihren Mann und das Kind. Und in Budapest wird doch von einigen 100.000
Menschen deutsch gesprochen, und in 2 Jahren kann und wird sie doch ein
wenig Ungarisch erlernt haben. Ist ihr Mann nicht bei ihr? Ist er vielleicht
viel auf Reisen? Was ist der Hauptgrund ihrer Traurigkeit und Deines Mitgefühls?
Übrigens fällt mir ein, dass sie vielleicht noch länger
als zwei Jahre in Budapest ist, und noch immer also nicht eingewöhnt?
Und dann hat sie eben doch das Kind, wo ist da Platz für Mitleid?
Du sagtest es ja selbst in Euerem Schreibmaschinenzimmer den sonderbaren
Damen. Und ich hätte es - im klaren Bewußtsein, dass ich
mich damit selbst aburteile - nicht anders gesagt, denn es sind Worte,
die mir fortwährend auf der Zunge liegen und die ich öfters wiederhole,
als gut ist. Gerade Sonntag nachmittag sagte mir Max bei einer ähnlichen
Gelegenheit: "Du redest wie ein Mädchen." Aber das ist
nicht ganz richtig, denn in einer guten Sammlung von Aussprüchen
Napoleons, in die ich seit einiger Zeit immer wenn ich nur kann hineinschaue,
wird dieser Ausspruch berichtet: "Es ist fürchterlich, kinderlos
zu sterben", und wehleidig war er durchaus nicht; Freunde z. B. waren
ihm, ob freiwillig oder durch Zwang, entbehrlich, einmal sagte er: "Ich
habe keinen Freund außer Daru, der gefühllos und kalt ist und
für mich paßt." Und in welche wahre Tiefe dieser Mensch
zurückreichte, erkenne aus dieser Bemerkung: "Der wird nicht
weit kommen, der von Anfang an weiß, wohin er geht." Man darf
ihm also schon das Fürchterliche der Kinderlosigkeit glauben. Und
das auf mich zu nehmen, muß ich mich bereit machen, denn von allem
sonstigen abgesehen, dem Wagnis, Vater zu sein, würde ich mich niemals
aussetzen dürfen.
Ich weiß nicht, wieso es kommt, seit paar Tagen laufen mir alle Briefe
so ins Traurige aus. Solche Zeiten kommen und gehn, ich bitte Dich auf
den Knien, sei mir nicht böse deshalb. Es fällt mir auch zu spät
ein, dass der Brief am Neujahrsmorgen ankommt und dass er ein
neues Jahr einleiten soll, das uns ganz und gar gehören soll. Ich
habe dafür heute eine neue Verbindung zwischen uns herausgefunden.
Ich werde einen Kalender mit schönen Bildern für jeden Tag kaufen
und das Kalenderblatt des Ankunftstages meines Briefes Dir immer am Morgen
in meinem Brief eingeschlossen auf Deinen Schreibtisch legen lassen. Ich
werde dadurch allerdings für mich ein wenig der Zeit vorrücken
und kalendermäßig den Tag, den Du erleben sollst, eigentlich
schon durchlebt haben, aber trotzdem werden wir vor den gleichen Kalenderblättern
leben, und das Leben wird mir dadurch lieber sein.
Wo wirst Du Sylvester sein? Tanzen? Champagner trinken? (Am Nachmittag
hast Du im Grunewald Wein getrunken? Das doch nicht?) Ich wollte bei meinem
Schreibtisch bleiben und den Roman weitertreiben (der heute noch an der
gestrigen Unterbrechung leidet), nun bin ich aber eingeladen worden, zu
Leuten, die ich gut leiden kann (die Familie des Onkels jenes Dr. Weltsch),
und so zweifle ich, was ich tun soll; schließlich werde ich ja doch
zuhause bleiben, glaube ich, wenn ich auch, seitdem ich Dein Täschchen
habe, in jeder Gesellschaft aufzutreten fähig bin (die Hand in der
Tasche und das Täschchen in der Hand). Aber die Versäumnis wäre
zu arg, täte mir leid und außerdem warnen mich ganz ungewohnte
Zuckungen und Muskelspiele im Kopf vor anzulangen Nachtwachen.
Nun Liebste, adieu, ein fröhliches neues Jahr meinem liebsten Mädchen;
ein neues Jahr ist eben ein anderes Jahr, und wenn das alte uns auseinandergehalten
hat, vielleicht treibt uns das neue Jahr mit Wundern und mit Gewalt zusammen.
Treibe, treibe, neues Jahr!
Franz
Sammlung von Aussprüchen NapoleonsBerühmte
Aussprüche und Worte Napoleons von Corsika bis St. Helena, gesammelt
und herausgegeben von Robert Rehlen, Leipzig 1906.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at