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An Felice Bauer
Liebste, das war ein schlechter Sonntag. Wie in Ahnung seiner Unruhe lag
ich früh endlos im Bett, trotzdem ich wegen der Fabrik, die mir (allerdings
für die übrige Welt unsichtbar) Sorgen und Gewissensbisse macht,
einen Weg hätte machen sollen. Durch dieses nutzlose Liegen (Dein
Brief kam erst um 11) verschob sich dann alles andere, und als ich nach
dem erst um ½3 angefangenen Essen den Brief an Dich anfing, glücklich
ein wenig bei Dir bleiben zu können, ruhig in der infolge allgemeinen
Mittagsschlafes ruhigen Wohnung, wurde ich angeläutet eben von jenem
Dr. Weltsch, der nicht nur ein flüchtiger Bekannter, sondern mein
rechtmäßiger Freund ist. Übrigens heißt er Felix,
und ich bin froh, mit diesem Namen schon so lange in Freundschaft gestanden
zu sein; jetzt hat sich freilich dieser Name noch ein wenig in den letzten
Buchstaben aufgelöst und einen unglaublichen Inhalt angenommen. Dieser
Felix also hat mich, als ich an Felice schrieb, angeläutet und mich
an eine Vereinbarung erinnert, mit ihm, seiner Schwester und einer Freundin
(der Schwester natürlich) spazierenzugehn, wie ich es auch letzten
Donnerstag getan habe. Und trotzdem es mir am letzten Donnerstag nicht
gefallen hat (ich habe zeitweise und meistens Angst vor Mädchen),
und trotzdem ich erst am Anfang jenes mich festhaltenden Briefes war, und
trotzdem ich auch eine Verabredung mit Max hatte und trotzdem ich mit Recht
fürchtete, nach dem Spaziergang zum Schlaf nicht mehr die nötige
Zeit zu haben - sagte ich doch sofort mit Feuereifer zu, denn vor dem Telephon,
und selbst wenn es nur ein Haustelephon ist, bin ich hilflos, und dann
wollte ich doch die Mädchen nicht warten lassen. Aber als ich herunterkam,
ärgerlich vor lauter Bedenken, und vor Menschen statt vor dem schrecklichen
Telephon stand und überdies außer den dreien noch ein Mädchen
und einen jungen Mann antraf, entschloß ich mich rasch, begleitete
sie nur bis zur Brücke und verabschiedete mich, wobei ich den Verkehr
beim Brückenmauthäuschen störte und einer
Frau hinter mir auf den Fuß trat. Dann lief ich befreit zu Max. Aber
nun erzähle ich diesen Sonntag nicht mehr weiter, denn es strebt eben
dem traurigen Ende zu, dass ich heute nichts mehr schreiben kann,
da schon längst 11 Uhr vorüber ist und da ich in meinem Kopf
Spannungen und Zuckungen habe, wie ich sie an mir eigentlich erst seit
einer Woche kenne. Nicht schreiben und dabei Lust, Lust, eine schreiende
Lust zum Schreiben in sich haben!
Ich weiß jetzt übrigens auch genauer, warum mich der gestrige
Brief so eifersüchtig gemacht hat: Dir gefällt mein Buch [Betrachtung]
ebensowenig wie Dir damals mein Bild gefallen hat. Das wäre ja nicht
so arg, denn was dort steht, sind zum größten Teil alte Sachen,
aber immerhin doch noch immer ein Stück von mir und also ein Dir fremdes
Stück von mir. Aber das wäre gar nicht arg, ich fühle Deine
Nähe so stark in allem übrigen, dass ich gern bereit bin,
wenn ich Dich eng neben mir habe, das kleine Buch zuerst mit meinem Fuße
wegzustoßen. Wenn Du mich in der Gegenwart lieb hast, mag die Vergangenheit
bleiben, wo sie will, und wenn es sein muß, so ferne wie die Angst
um die Zukunft. Aber dass Du es mir nicht sagst, dass Du mir
nicht mit zwei Worten sagst, dass es Dir nicht gefällt. - Du
müßtest ja nicht sagen, dass es Dir nicht gefällt
(das wäre ja wahrscheinlich auch nicht die Wahrheit), sondern dass
Du Dich bloß darin nicht zurechtfindest. Es ist ja wirklich eine
heillose Unordnung darin oder vielmehr: es sind Lichtblicke in eine unendliche
Verwirrung hinein und man muß schon sehr nahe herantreten, um etwas
zu sehn. Es wäre also nur sehr begreiflich, wenn Du mit dem Buch nichts
anzufangen wüßtest, und die Hoffnung bliebe ja, dass es
Dich in einer guten und schwachen Stunde doch noch verlockt. Es wird ja
niemand etwas damit anzufangen wissen, das ist und war mir klar, - das
Opfer an Mühe und Geld, das mir der verschwenderische Verleger gebracht
hat und das ganz und gar verloren ist, quält mich ja auch, - die Herausgabe
ergab sich ganz zufällig, vielleicht erzähle ich Dir das einmal
bei Gelegenheit, mit Absicht hätte ich nie daran gedacht. Aber das
alles sage ich nur, um Dir klar zu machen, wie selbstverständlich
mir eine unsichere Beurteilung von Deiner Seite erschienen wäre. Aber
Du sagtest nichts, kündigtest zwar einmal an, etwas zu sagen, sagtest
es aber nicht. Es ist ganz so wie mit dem Neble, auch von dem durfte ich
so lange nichts erfahren. Liebste, schau, ich will Dich doch mit allem
mir zugewendet wissen, nichts, nicht das geringste soll beiseite gesprochen
werden, wir gehören doch - dächte ich - zusammen, eine Dir liebe
Bluse wird mir vielleicht an sich nicht gefallen, aber da Du sie trägst,
wird sie mir gefallen, mein Buch gefällt Dir an sich nicht, aber insoferne,
als es von mir ist, hast Du es sicher gerne - nun dann sagt man es aber
doch, und zwar beides.
Liebste, Du bist mir gewiß wegen dieser großen Ansprache nicht
böse, Du bist doch selbst die Klarheit von uns zweien und es scheint
mir, als hätte ich, was ich an Klarheit besitze, an jenem Augustabend
aus Deinen Augen gelernt. Allzuviel habe ich ja nicht gelernt, das kannst
Du aus dem Traum sehn, den ich gestern hatte.
Nein, den beschreibe ich nicht mehr, denn jetzt fällt mir ein, dass
Du Liebste leidest, wenigstens am Freitag abend gelitten hast. Das ist
es also, was Dich zuhause quält? Auch davon hatte ich bisher keine
Ahnung, aber da liegt wohl die Schuld an meiner Begriffsstützigkeit.
Wenn Du in solche Dinge noch hineingezogen wirst, liebstes, armes Kind,
das ist schrecklich. So ist es bei mir nicht, meine Mutter ist die liebende
Sklavin meines Vaters und der Vater ihr liebender Tyrann, darum ist im
Grunde die Eintracht immer vollkommen gewesen und das Leid, das wir alle
gemeinsam gar in den letzten Jahren hatten und das in seiner Gänze
auf den leidenden Zustand des Vaters zurückgeht, der an Arterienverkalkung
leidet, konnte infolge dieser Eintracht ins Innerste der Familie nicht
eigentlich dringen.
Gerade dreht sich der Vater nebenan gewaltig in seinem Bett. Er ist ein
großer, starker Mann, in der letzten Zeit fühlt er sich glücklicherweise
wohler, aber sein Leiden ist eben ein immer drohendes. Die Eintracht der
Familie wird eigentlich nur durch mich gestört und mit den fortschreitenden
Jahren immer ärger, ich weiß mir sehr oft keine Hilfe und fühle
mich sehr tief in Schuld bei meinen Eltern und bei allen. Und so leide
auch ich, mein liebstes fernes Mädchen, genug innerhalb der Familie
und durch sie, nur dass ich es mehr verdiene als Du. In frühern
Jahren stand ich mehr als einmal in der Nacht beim Fenster und spielte
mit der Klinke, es schien mir sehr verdienstlich, das Fenster aufzumachen
und mich hinauszuwerfen.
Das ist aber lange vorüber und ein so sicherer Mensch, wie ich es
heute durch die Gewißheit Deiner Liebe bin, war ich noch nie.
Gute Nacht, Liebste, auch traurige Küsse tun wohl und vor Trauer bleibt
der Mund endlos lange auf dem andern und will sich gar nicht losreißen.
Franz
Liebste, nochmals: Ich schreibe regelrecht nur einmal täglich, meine
fahrigen Briefe während des Tages machen mich unglücklich und
das Gefühl, dass Du um 10 Uhr einmal nutzlos einen Brief erwarten
könntest, brennt mich aus. Also keinen Brief erwarten, Liebste,
keine traurigen Blicke der Brühl auffangen, der ich übrigens
gerne danken würde, nur weiß ich nicht wie.
Bist Du Neujahr im Bureau? Mir schreibe bitte nach Hause. Ich werde Dir
auch nachhause schreiben.
[Am Rande] Was bedeutet der Scherz mit dem Berl. Tageblatt? Was hattest
Du mir denn zu vergeben? Genaue Antwort!
Brückenmauthäuschen: Für das Überschreiten
der Prager Brücken (mit Ausnahme der Karlsbrücke) wurde bis ins
Jahr 1918 ein Zoll (Maut) erhoben. Vgl. Wagenbach, Biographie, S.
67f. und Richard Katz, "Prager Brückengeld", Vossische Zeitung,
5. Januar 1921, S. 2-3.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at