Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

[29.Dezember 1912]
 

Meine liebste Wohltäterin, also doch noch ein Brief, und gar ein solcher und über die Maßen schöner. Als es um ½II Uhr läutete - es konnte kaum jemand anderer sein als derBriefträger-stand ich hinter der Glastür meines Zimmers und suchte mich im vorhinein zu trösten: "Es kann kein Brief kommen", sagte ich mir, "wie sollte denn heute noch ein Brief kommen, Felice kann sich doch nicht krank schreiben. Du wirst dich unbedingt bis morgen gedulden müssen." Und ich zitterte wahrhaftig in meiner Not.

Liebste, das ist wieder einmal ein Brief, bei dem einem heiß vor ruhiger Freude wird. Da stehn nicht diese vielen Bekannten und Schriftsteller herum, da -

also da wurde ich gestört, es war am Nachmittag und jetzt ist so spät, dass ich gar nicht zu schauen wage, aus dem versperrten Hause werde ich mich zum Bahnhof schleichen (ach, wenn es mein Vater und die Verwandten wüßten, die ich seit dem Morgen nicht gesehen habe) und diesen Fetzen einwerfen. Ich kann Dich um meiner Ruhe willen Montag nicht ohne Nachricht vom Sonntag [lassen]. Es geht mir ganz gut, nur die Zeit hat man mir gestohlen; wie könnte es mir schlecht gehn, solange Du mich lieb hast. Jetzt aber laufen!

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at