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An Felice Bauer
Mein liebstes Kind, in meinem Roman gehn eben sehr belehrende Dinge vor.
Hast Du schon einmal die Demonstrationen gesehen, welche in amerikanischen
Städten am Vorabend der Wahl eines Bezirksrichters stattfinden? Gewiß
ebensowenig wie ich, aber in meinem Roman sind diese Demonstrationen
eben im Gange.
Vorläufig nur paar Worte, meine Liebste, es nähert sich schon
2 Uhr und mein Kopf brummt mir seit einer Woche regelmäßig,
wenn ich nach 2 schlafen gehe. Sollte ich die Nachtwachen, statt mich an
sie zu gewöhnen immer weniger vertragen? Mein Gähnen im Bureau
ist geradezu schändlich, ich gähne die Direktoren, den Chef,
die Parteien an, kurz jeden, der mir in den Weg kommt. Aber ich hoffe,
durch die 2 Uhr Schlafenszeit meiner Schwäche wieder aufzuhelfen.
Liebste, soll ich Dir sagen, was für ein jämmerlicher Mensch
ich bin? Soll ich es nicht lieber verschweigen, um mir bei Dir nicht zu
schaden? Aber muß ich es nicht sagen, da wir doch zusammengehören,
so eng, als es nur möglich ist, wenn man Zeit und Raum zu Feinden
hat? Also ich muß es sagen.
Dein heutiger zweiter Brief hat mich eifersüchtig gemacht. Du staunst
und glaubst nicht richtig gelesen zu haben? Ja, eifersüchtig. Alle
Briefe, in denen soviele Leute genannt werden wie z. B. in dem heutigen
Brief machen mich wehrlos eifersüchtig. Jetzt erinnere ich mich, dass
es auch ein solcher Brief gewesen ist, der nach und nach meine Tollheit
und dann jenen abscheulichen Brief veranlaßt hat, der mich für
immer in Deiner Schuld stehen lassen wird. - Also auf alle Leute in Deinem
Briefe bin ich eifersüchtig, auf die genannten und ungenannten, auf
Männer und Mädchen, auf Geschäftsleute und Schriftsteller
(und natürlich ganz besonders auf diese). Ich bin eifersüchtig
auf den Warschauer Vertreter (aber vielleicht ist "eifersüchtig"
nicht das richtige Wort, vielleicht bin ich nur "neidisch"),
ich bin eifersüchtig wegen der Leute, die Dir bessere Stellungen anbieten,
ich bin eifersüchtig wegen des Frl. Lindner (die Brühl und Großmann
sind kleine Mädchen, denen gönne ich Dich noch knapp), ich bin
eifersüchtig wegen des Werfel, des Sophokles, der Ricarda Huch, der
Lagerlöf, des Jacobsen. Kindisch freut sich meine Eifersucht dessen,
dass Du Eulenberg Hermann statt Herbert nennst, während Dir Franz
zweifellos eingegraben ist. (Dir gefallen die "Schattenbilder"?
Du findest sie knapp und klar?) Ich kenne in der Gänze nur "Mozart",
Eulenberg (nein, Prager ist er nicht, Rheinländer ist er) hat es hier
vorgelesen, aber das konnte ich kaum ertragen, eine Prosa voll Atemnot
und Unreinlichkeit. Seine Dramen sollen aber liebenswert sein, die kenne
ich nicht. Ja jetzt erinnere ich mich, im "Pan" eine in vielem
gute Arbeit gelesen zu haben, "Brief eines Vaters an seinen Sohn",
glaube ich, hieß es. Aber natürlich tue ich ihm in meiner gegenwärtigen
Verfassung großes Unrecht, daran ist kein Zweifel. Aber Du sollst
die "Schattenbilder" nicht lesen. Nun
sehe ich aber gar, dass Du "ganz begeistert" von ihm bist.
(Hört also, Felice ist von ihm begeistert und ganz und gar begeistert
und ich wüte da gegen ihn mitten in der Nacht'.) Aber in Deinem Brief
kommen ja noch weitere Leute vor, mit allen, allen möchte ich zu raufen
anfangen, nicht um ihnen etwas Böses zu tun, sondern um sie von Dir
wegzustoßen, um Dich von ihnen freizubekommen, um nur Briefe zu lesen,
in denen bloß von Dir, Deiner Familie und den zwei Kleinen und natürlich!
und natürlich! von mir die Rede ist. Aber Liebste, ich bin ja nicht
verrückt, ich will von allem hören, ich bin vor nachdrängender
Liebe allzusehr in Dich eingedrungen, als dass ich in Wahrheit und
im Grunde eifersüchtig sein könnte (wenn Du die "Schattenbilder"
liest, bin ich gewiß, dass wir den Widerwillen von meiner Seite
und die Begeisterung von Deiner Seite schließlich teilen werden,
d.h. das Exemplar, das Du gerade in Deinen Händen hältst, wird
mich begeistern, sonst nichts), aber ich wollte Dir nur, damit Du mich
ganz kennst, den Eindruck beschreiben, den Dein Brief nachmittags also
allerdings in der Zeit meines Tiefstandes auf mich gemacht hat.
Ich bekam den Brief tatsächlich, als ich aus dem Bureau kam, er war
sogar schon mit der 11 Uhr-Post gekommen. Das sieht wie ein Verdienst der
österreichischen Post aus. Nun denke aber - so launisch ist unsere
Post -, der Brief kommt nicht in die Wohnung, sondern in das wohl 1 km
von der Wohnung entfernte Geschäft meiner Eltern. An und für
sich macht das ja gar nichts, denn meine Post wird nicht kritisiert und
der Brief wurde auch gleich aus dem Geschäft in die Wohnung getragen
- aber es soll Dir nur ein Beweis dafür sein, dass meine Dich
manchmal so aufregende, rücksichtslose Unruhe durch eine derartige
launenhafte Postzustellung doch fast entschuldigt wird.
Das wirkte ja auch noch bei der nachmittäglichen Niedergeschlagenheit
mit, dass ich mir sagte: Heute habe ich zwei Briefe, das ist so schön,
aber wer weiß, ob ich dann noch morgen, Sonntag, einen Brief bekomme.
Felice scheint vorauszusetzen, dass dieser Brief erst Sonntag kommen
wird, nun ist er aber schon da und ich werde morgen vielleicht ohne Nachricht
dasitzen oder besser mich in meinem Bette krümmen. Möchte es
nicht so kommen!
Nun aber kam ich zu der Stelle "Ich übertreffe Dich jetzt bei
weitem im Schreiben von langen Briefen" und die gab mir den Rest.
Nochmals: Ich bin nicht verrückt, der Dümmste muß ja erkennen,
dass jene Bemerkung ganz nebensächlich war und ganz zufällig
niedergeschrieben wurde. Aber glaube mir, Felice, (es muß schon geradezu
ein Traumzustand gewesen sein, in dem ich das las) - in diesem Augenblicke
dachte ich, das bedeutet den Abschied; ich hätte nicht genug geschrieben
und darum sei Schluß. Liebste, nun aber umarme ich Dich so fest wie
noch niemals, um mich Deiner nach diesen krankhaften Empfindlichkeiten,
die hie und da in mir bohren, wieder völlig zu versichern.
Diese Launen, die sicherlich nur auf die Entfernung und vielleicht auf
irgendeinen Konstitutionsfehler bei mir zurückgehn, waren übrigens
damit noch nicht zu Ende, sondern wurden in einem Traum, den ich nachmittags
hatte und von dem ich Dir morgen erzählen werde (allerdings wird dann
schon vieles vergessen sein), zusammengefaßt. Jetzt aber Gute Nacht,
Liebste, und ein langer, ruhiger, zuversichtlicher Kuß.
Franz
meinem RomanVgl. Amerika, S. 278ff. und Tagebücher,
S.279. Am 1.Juni 1912 besuchte Kafka einen Lichtbildervortrag des tschechischen
Politikers Soukup über "Amerika und seine Beamtenschafts. Daraus
erfuhr Kafka manches über den Verlauf solcher Demonstrationen. Auch
andere Anregungen verdankt der Roman den Berichten Soukups, die im selben
Jahr mit zahlreichen Abbildungen erschienen: Frantisek Soukup, Amerika,
Rada Obrazü Ametickeho Zivota, Prag 1912.
Schattenbilder [2] Herbert Eulenberg, "Brief
eines Vaters unserer Zeit" in der Zeitschrift Pan I, II (1. April
1911), S. 358 ff und Schattenbilder. Eine Fibel für Kulturbedürftige
in Deutschland, Berlin 1910.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at