Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

vom 28. zum 29.XII.I2
 

Mein liebstes Kind, in meinem Roman gehn eben sehr belehrende Dinge vor. Hast Du schon einmal die Demonstrationen gesehen, welche in amerikanischen Städten am Vorabend der Wahl eines Bezirksrichters stattfinden? Gewiß ebensowenig wie ich, aber in meinem Roman sind diese Demonstrationen eben im Gange.

Vorläufig nur paar Worte, meine Liebste, es nähert sich schon 2 Uhr und mein Kopf brummt mir seit einer Woche regelmäßig, wenn ich nach 2 schlafen gehe. Sollte ich die Nachtwachen, statt mich an sie zu gewöhnen immer weniger vertragen? Mein Gähnen im Bureau ist geradezu schändlich, ich gähne die Direktoren, den Chef, die Parteien an, kurz jeden, der mir in den Weg kommt. Aber ich hoffe, durch die 2 Uhr Schlafenszeit meiner Schwäche wieder aufzuhelfen.

Liebste, soll ich Dir sagen, was für ein jämmerlicher Mensch ich bin? Soll ich es nicht lieber verschweigen, um mir bei Dir nicht zu schaden? Aber muß ich es nicht sagen, da wir doch zusammengehören, so eng, als es nur möglich ist, wenn man Zeit und Raum zu Feinden hat? Also ich muß es sagen.

Dein heutiger zweiter Brief hat mich eifersüchtig gemacht. Du staunst und glaubst nicht richtig gelesen zu haben? Ja, eifersüchtig. Alle Briefe, in denen soviele Leute genannt werden wie z. B. in dem heutigen Brief machen mich wehrlos eifersüchtig. Jetzt erinnere ich mich, dass es auch ein solcher Brief gewesen ist, der nach und nach meine Tollheit und dann jenen abscheulichen Brief veranlaßt hat, der mich für immer in Deiner Schuld stehen lassen wird. - Also auf alle Leute in Deinem Briefe bin ich eifersüchtig, auf die genannten und ungenannten, auf Männer und Mädchen, auf Geschäftsleute und Schriftsteller (und natürlich ganz besonders auf diese). Ich bin eifersüchtig auf den Warschauer Vertreter (aber vielleicht ist "eifersüchtig" nicht das richtige Wort, vielleicht bin ich nur "neidisch"), ich bin eifersüchtig wegen der Leute, die Dir bessere Stellungen anbieten, ich bin eifersüchtig wegen des Frl. Lindner (die Brühl und Großmann sind kleine Mädchen, denen gönne ich Dich noch knapp), ich bin eifersüchtig wegen des Werfel, des Sophokles, der Ricarda Huch, der Lagerlöf, des Jacobsen. Kindisch freut sich meine Eifersucht dessen, dass Du Eulenberg Hermann statt Herbert nennst, während Dir Franz zweifellos eingegraben ist. (Dir gefallen die "Schattenbilder"? Du findest sie knapp und klar?) Ich kenne in der Gänze nur "Mozart", Eulenberg (nein, Prager ist er nicht, Rheinländer ist er) hat es hier vorgelesen, aber das konnte ich kaum ertragen, eine Prosa voll Atemnot und Unreinlichkeit. Seine Dramen sollen aber liebenswert sein, die kenne ich nicht. Ja jetzt erinnere ich mich, im "Pan" eine in vielem gute Arbeit gelesen zu haben, "Brief eines Vaters an seinen Sohn", glaube ich, hieß es. Aber natürlich tue ich ihm in meiner gegenwärtigen Verfassung großes Unrecht, daran ist kein Zweifel. Aber Du sollst die "Schattenbilder" nicht lesen. Nun sehe ich aber gar, dass Du "ganz begeistert" von ihm bist. (Hört also, Felice ist von ihm begeistert und ganz und gar begeistert und ich wüte da gegen ihn mitten in der Nacht'.) Aber in Deinem Brief kommen ja noch weitere Leute vor, mit allen, allen möchte ich zu raufen anfangen, nicht um ihnen etwas Böses zu tun, sondern um sie von Dir wegzustoßen, um Dich von ihnen freizubekommen, um nur Briefe zu lesen, in denen bloß von Dir, Deiner Familie und den zwei Kleinen und natürlich! und natürlich! von mir die Rede ist. Aber Liebste, ich bin ja nicht verrückt, ich will von allem hören, ich bin vor nachdrängender Liebe allzusehr in Dich eingedrungen, als dass ich in Wahrheit und im Grunde eifersüchtig sein könnte (wenn Du die "Schattenbilder" liest, bin ich gewiß, dass wir den Widerwillen von meiner Seite und die Begeisterung von Deiner Seite schließlich teilen werden, d.h. das Exemplar, das Du gerade in Deinen Händen hältst, wird mich begeistern, sonst nichts), aber ich wollte Dir nur, damit Du mich ganz kennst, den Eindruck beschreiben, den Dein Brief nachmittags also allerdings in der Zeit meines Tiefstandes auf mich gemacht hat.

Ich bekam den Brief tatsächlich, als ich aus dem Bureau kam, er war sogar schon mit der 11 Uhr-Post gekommen. Das sieht wie ein Verdienst der österreichischen Post aus. Nun denke aber - so launisch ist unsere Post -, der Brief kommt nicht in die Wohnung, sondern in das wohl 1 km von der Wohnung entfernte Geschäft meiner Eltern. An und für sich macht das ja gar nichts, denn meine Post wird nicht kritisiert und der Brief wurde auch gleich aus dem Geschäft in die Wohnung getragen - aber es soll Dir nur ein Beweis dafür sein, dass meine Dich manchmal so aufregende, rücksichtslose Unruhe durch eine derartige launenhafte Postzustellung doch fast entschuldigt wird.

Das wirkte ja auch noch bei der nachmittäglichen Niedergeschlagenheit mit, dass ich mir sagte: Heute habe ich zwei Briefe, das ist so schön, aber wer weiß, ob ich dann noch morgen, Sonntag, einen Brief bekomme. Felice scheint vorauszusetzen, dass dieser Brief erst Sonntag kommen wird, nun ist er aber schon da und ich werde morgen vielleicht ohne Nachricht dasitzen oder besser mich in meinem Bette krümmen. Möchte es nicht so kommen!

Nun aber kam ich zu der Stelle "Ich übertreffe Dich jetzt bei weitem im Schreiben von langen Briefen" und die gab mir den Rest. Nochmals: Ich bin nicht verrückt, der Dümmste muß ja erkennen, dass jene Bemerkung ganz nebensächlich war und ganz zufällig niedergeschrieben wurde. Aber glaube mir, Felice, (es muß schon geradezu ein Traumzustand gewesen sein, in dem ich das las) - in diesem Augenblicke dachte ich, das bedeutet den Abschied; ich hätte nicht genug geschrieben und darum sei Schluß. Liebste, nun aber umarme ich Dich so fest wie noch niemals, um mich Deiner nach diesen krankhaften Empfindlichkeiten, die hie und da in mir bohren, wieder völlig zu versichern.

Diese Launen, die sicherlich nur auf die Entfernung und vielleicht auf irgendeinen Konstitutionsfehler bei mir zurückgehn, waren übrigens damit noch nicht zu Ende, sondern wurden in einem Traum, den ich nachmittags hatte und von dem ich Dir morgen erzählen werde (allerdings wird dann schon vieles vergessen sein), zusammengefaßt. Jetzt aber Gute Nacht, Liebste, und ein langer, ruhiger, zuversichtlicher Kuß.

Franz




meinem RomanVgl. Amerika, S. 278ff. und Tagebücher, S.279. Am 1.Juni 1912 besuchte Kafka einen Lichtbildervortrag des tschechischen Politikers Soukup über "Amerika und seine Beamtenschafts. Daraus erfuhr Kafka manches über den Verlauf solcher Demonstrationen. Auch andere Anregungen verdankt der Roman den Berichten Soukups, die im selben Jahr mit zahlreichen Abbildungen erschienen: Frantisek Soukup, Amerika, Rada Obrazü Ametickeho Zivota, Prag 1912.


Schattenbilder [2] Herbert Eulenberg, "Brief eines Vaters unserer Zeit" in der Zeitschrift Pan I, II (1. April 1911), S. 358 ff und Schattenbilder. Eine Fibel für Kulturbedürftige in Deutschland, Berlin 1910.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at