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[An Felice Bauer]
[Prag, 26. Dezember 1912; Donnerstag]

26.XII.12, Donnerstag früh


Endlich habe ich Dein Bild so wie ich Dich gesehen habe, nicht so freilich, wie ich Dich zuerst gesehen habe (ohne Jacke, mit freiem, durch keinen Hut eingegrenzten Kopf), sondern so, wie ich Dich im Torweg des Hotels verloren habe, so wie ich neben Dir über den Graben ging, keine Beziehung zu Dir fühlte und nichts anderes als die stärkste Beziehung verlangte. Es fällt mir jetzt ein, hast Du nicht die Gewohnheit, öfters das Haar aus der Stirn zu streichen, besonders wenn Du z.B. ein Bild in der Hand hältst und niederschauen willst? Ein Irrtum der Erinnerung? Ich sehe Dich nämlich manchmal so. Da ist also auch der Hut, dessen Unterseite ich mit Blindheit geschlagener Mensch für weiß gehalten habe. Die Bluse ist aber wohl eine andere, die Bluse in Prag war doch weiß. Jetzt küßte ich Dich und Dein Lächeln war nachher um einen Schimmer freundlicher als früher. Was sagt Du, liebstes, liebstes Kind, zu diesem Verhalten Deines Bildes? In den nächsten Tagen wenigstens werde ich das Täschchen und das Bild nicht in der Tasche, sondern als Stütze, Schutz und Kräftigung in der Faust tragen. Das müßte doch merkwürdig zugehn, wenn der Besitzer eines solchen Bildes nicht allem standhalten sollte. Und Du, Liebste, hast Du Dich schon ein wenig erholt? Jagen Dich die Verwandten nicht zu sehr herum? Du hättest ja gar keine Zeit für mich gehabt, wenn ich nach Berlin gekommen wäre. Aber was sage ich? Damit will ich den Selbstvorwürfen ein Ende machen? Und hatte ich schließlich nicht doch recht, nicht nach Berlin gefahren zu sein? Aber wann werde ich Dich endlich einmal sehn? Im Sommer? Aber warum gerade im Sommer, wenn ich Dich Weihnachten nicht gesehn habe? Es ist jetzt ein sonniger Vormittag, ich bin ziemlich ausgeschlafen, aber ich bin unsicherer als in der tiefsten Nacht. Von Deiner Mutter hätte ich Dir viel zu schreiben, ich lasse es für den nächsten Brief. Merkwürdig, mit welcher Freude ich alles verschlinge, was Du mir an Bemerkungen Deiner Mutter über mich schreibst. Zum Teil ist es ja die Freude, so feindselig (wenn auch aus den besten Absichten) angegriffen und so mächtig und lieb verteidigt zu werden. Aber ganz erklärt das doch diese Freude nicht. Ich möchte in Deiner Familie immerfort genannt werden. Was für ein widersinniges Verlangen!
Aber nun ist schon fast Mittag. Auf, auf! Adieu Felice! Bild ins Täschchen! Brief in den Umschlag und zum Bahnhof gerannt, ihn einzuwerfen!

Franz

Ich lege einen Weihnachtsgruß meines letzten Sanatoriums bei, er kam zugleich mit Deinem Bild. Sieh nur, wie ich mich mit ganz teufelsmäßiger Hinterlist von einem fremden Glauben habe heilen lassen wollen. Es hat auch nicht viel geholfen.

[Auf einem beigelegtem Zettel]
Noch etwas Unaufschiebbares fällt mir ein: Du hast doch, Liebste, Deiner Schwester nicht am Ende jene Bluse geschenkt, die Du damals in Prag getragen hast?


Sanatoriums: Das Naturheilsanatorium Rudolf Just in Jungborn (Harz). Franz Kafka verbrachte im Juli 1912 drei Wochen dort.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at