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[An Felice Bauer]
[Prag, 25. Dezember 1912; Mittwoch]

vom 25. zum 26. XII. 12


Der Roman ist ein wenig wieder vorwärtsgeschoben, ich halte mich an ihn, da mich die Geschichte abgewiesen hat. Ich habe jene Geschichte auch unter zu großen Ansprüchen an mich angefangen; gleich im Anfang sollen vier Personen reden und sich kräftig an allem beteiligen. So viele Menschen kann ich aber nur dann vollständig sehn, wenn sie sich im Laufe, aus dem Strome der Geschichte erheben und sich entwickeln. Gleich am Anfang habe ich leider nur zwei beherrscht und wenn nun vier Personen drängen und auftreten wollen, man aber nur den Blick für zwei hat, entsteht eine traurige, förmlich gesellschaftliche Verlegenheit. Die zwei wollen und wollen sich nicht demaskieren. dadurch aber, dass mein Blick herumirrt, erhascht er vielleicht auch Schatten von diesen zweien, dafür fangen aber die zwei festen Gestalten in ihrer zeitweiligen Verlassenheit unsicher zu werden an und schließlich schlägt alles zusammen. Schade!
Nun bin ich aber wirklich zu müde, ich habe während des Tages durch alle möglichen Störungen gar nicht geschlafen, an Werketagen schlafe ich viel mehr. Ich habe Dir soviel zu sagen und nun dreht mir die Müdigkeit den Haupthahn um. Hätte ich Dir doch, statt am Roman zu schreiben, geschrieben, wie ich so sehr wollte. Ich hatte solche Lust, den Brief damit anzufangen, das Schreiben damit vorzubereiten, dass ich das Papier ganz und gar abgeküßt hätte, denn es kommt doch in Deine Hände. Nun aber bin ich müde und dumpf und würde noch mehr als Küsse Deinen lebendigen Blick brauchen, wie er in der heutigen Photographie zu ahnen ist. Heute sage ich nur, was ich an dem Bild auszusetzen habe; Dein Blick will mich nicht treffen, immer geht er über mich hinweg, ich drehe das Bild nach allen Seiten, immer aber findest Du eine Möglichkeit wegzusehn und ruhig und wie mit durchdachter Absicht wegzusehn. Allerdings habe ich die Möglichkeit, das ganze Gesicht an mich zu reißen, indem ich es küsse und das tue ich und will es noch einmal tun, knapp ehe ich einschlafe und will es nochmals tun, wenn ich aufwache. Wenn es der Rede wert ist, mein Mund gehört völlig Dir, ich küsse sonst niemanden, weder Eltern noch Schwestern und unerbittliche Tanten haben auf der wegzuckenden Wange Platz

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26. XII. 12, Donnerstag früh

Endlich habe ich Dein Bild so wie ich Dich gesehn habe, nicht so freilich, wie ich Dich zuerst gesehn habe (ohne Jacke, mit freiem, durch keinen Hut eingegrenzten Kopf), sondern so, wie ich Dich im Torweg des Hotels verloren habe, so wie ich neben Dir über den Graben ging, keine Beziehung zu Dir fühlte und nichts anderes als die stärkste Beziehung verlangte. Es fällt mir jetzt ein, hast Du nicht die Gewohnheit, öfters das Haar aus der Stirn zu streichen, besonders wenn Du z.B. ein Bild in der Hand hältst und niederschauen willst? Ein Irrtum der Erinnerung? Ich sehe Dich nämlich manchmal so so. Da ist also auch der Hut, dessen Unterseite ich mit Blindheit geschlagener Mensch für weiß gehalten habe. Die Bluse ist aber wohl eine andere, die Bluse in Prag war doch weiß. Jetzt küßte ich Dich und Dein Lächeln war nachher um einen Schimmer freundlicher als früher. Was sagst Du, liebstes, liebstes Kind, zu diesem Verhalten Deines Bildes? In den nächsten Tagen wenigstens werde ich das Täschchen und das Bild nicht in der Tasche, sondern als Stütze, Schutz und Kräftigung in der Faust tragen. Das müßte doch merkwürdig zugehn, wenn der Besitzer eines solchen Bildes nicht allem standhalten sollte. Und Du, Liebste, hast Du Dich schon ein wenig erholt? Jagen Dich die Verwandten nicht zu sehr herum? Du hättest ja gar keine Zeit für mich gehabt, wenn ich nach Berlin gekommen wäre. Aber was sage ich? Damit will ich den Selbstvorwürfen ein Ende machen? Und hatte ich schließlich nicht doch recht, nicht nach Berlin gefahren zu sein? Aber wann werde ich Dich endlich einmal sehn? Im Sommer? aber warum gerade im Sommer, wenn ich Dich Weihnachten nicht gesehn habe? Es ist jetzt ein sonniger Vormittag, ich bin ziemlich ausgeschlafen, aber ich bin unsicherer als in der tiefsten Nacht. Von Deiner Mutter hätte ich Dir viel zu schreiben, ich lasse es für den nächsten Brief. Merkwürdig, mit welcher Freude ich alles verschlinge, was Du mir an Bemerkungen Deiner Mutter über mich schreibst. Zum Teil ist es ja die Freude, so feindselig (wenn auch aus den besten Absichten) angegriffen und so mächtig und lieb verteidigt zu werden. Aber ganz erklärt das doch diese Freude nicht. Ich möchte in Deiner Familie immerfort genannt werden. Was für ein widersinniges Verlangen!
Aber nun ist schon fast Mittag. Auf, auf! Adieu Felice! Bild ins Täschchen! Brief in den Umschlag und zum Bahnhof gerannt, ihn einzuwerfen!

Franz

Ich lege einen Weihnachtsgruß meines letzten Sanatoriums bei, er kam zugleich mit Deinem Bild. Sieh nur, wie ich mich mit ganz teufelsmäßiger Hinterlist von einem fremden Glauben habe heilen lassen wollen. Es hat auch nicht viel geholfen.

[Auf einem beigelegten Zettel]
Noch etwas Unaufschiebbares fällt mir ein: Du hast doch, Liebste, Deiner Schwester nicht am Ende jene Bluse geschenkt, die Du damals in Prag getragen hast?


Sanatoriums: Sanatorium Just im Jungborn. Kafka verbrachte im Juli 1912 drei Wochen dort.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at