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[An Felice Bauer]
[Prag, 24. Dezember 1912; Dienstag]

Da ich endlich einmal ein wenig für mich geschrieben habe, bekomme ich Mut, fasse Dich bei den Armen (zarter habe ich noch nichts gehalten als Dich bei diesem Verhör, das nun werden soll) und frage in Deine geliebten Augen hinein: "Ist, Felice, im letzten Vierteljahr ein Tag gewesen, an dem Du keine Nachricht von mir bekommen hättest? Sieh mal, einen solchen Tag gab es nicht? Mich aber läßt Du heute, Dienstag, ganz ohne Nachrichten, vom Sonntag 4 Uhr ab weiß ich nichts von Dir, das sind morgen bis zur Postzustellung nicht weniger als 66 Stunden, die für mich mit allen guten und bösen Möglichkeiten abwechselnd sich anfüllen". Liebste, sei mir nicht böse wegen dieses Geredes, aber 66 Stunden sind doch wirklich eine lange Zeit. Ich bin mir ja aller Abhaltungen wohl bewußt, die Du hattest, es sind Weihnachten, Ihr habt Besuch, die Post ist unzuverlässig (vielleicht ist selbst mein Brief nicht pünktlich eingetroffen), aber immerhin 66 Stunden! Und trotzdem - eines muß ich noch sagen, ehe ich schlafen gehe - an freien Tagen ertrage ich das Fehlen eines Briefes noch verhältnismäßig gut - ich habe zwar keine Nachricht von Dir, aber ich bin frei, nichts hindert mich, immerfort an Dich zu denken und ist es auch nur eine einseitige Anknüpfung, sie reicht fast, fast bis in Dein Zimmer, so stark, notwendig und alleinherrschend sind die Kräfte, die sie bilden. Wenn Du mir also, Liebste, einmal keine Nachricht geben kannst, laß es einen Sonntag, einen Feiertag sein, an dem ich von Dir nichts erfahre. Deshalb war es ja auch heute erträglich, es war gar nicht so arg, wie Du nach der Feierlichkeit des Briefanfangs glauben könntest. Nur wochentags ist das Ausbleiben der erwarteten Nachricht schrecklich. Denn da ist mir ja verboten, an Dich zu denken, widerliche Anforderungen werden ringsherum an mich gestellt, Dein Brief oder Deine Karte, sie geben mir Sicherheit, ich muß nicht an Dich denken, ich muß nur die Hand in die Tasche stecken und fühle das von Dir beschriebene Papier und weiß, Du denkst an mich, Du lebst zu meinem Glück. Ist aber die Tasche leer und der Kopf, in dem die Gedanken an Dich nur so herumjagen, soll sich für die Bureauarbeit bereithalten, so gibt das einen schlimmen Gegensatz und es ist, glaube es, Liebste, äußerst schwer, sieh da durchzuarbeiten. - Früher einmal, in alter Zeit, schrieb ich, als kein Brief kam: ich erwarte keinen mehr, alles soll zu Ende sein. Heute sage ich: Das Briefeschreiben sollte allerdings aufhören, aber wir sollten einander so nahe sein, dass es nicht nur nicht nötig wäre, Briefe zu schreiben, sondern dass es vor übergroßer Nähe nicht einmal möglich wäre zu sprechen. Jetzt erinnere ich mich: Heute ist ja Heilige Nacht. Sie ist mir unheilig vergangen, bis auf diesen Abschiedskuß.

Franz

[Am Rande]
Ab Freitag bin ich wieder im Bureau.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at