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[An Felice Bauer]
[Prag, 23. Dezember 1912; Montag]

vom 23. bis 24.


Liebste, wie wird es nun sein, wenn ich nicht mehr werde schreiben können? Der Zeitpunkt scheint gekommen; seit einer Woche und mehr bringe ich nichts zustande, im Lauf der letzten zehn Nächte (bei allerdings sehr unterbrochener Arbeit) hat es mich nur einmal fortgerissen, das war alles. Ich bin fortdauernd müde, Schlafsucht wälzt sich mir im Kopf herum. Spannungen oben auf dem Schädel rechts und links. Gestern habe ich eine kleine Geschichte angefangen, die mir so sehr am Herzen lag und sich mit einem Schlag vor mir zu öffnen schien, heute verschließt sie sich völlig; wenn ich frage, wie es sein wird, denke ich nicht an mich, ich habe schon ärgere Zeiten durchlebt und lebe noch beiläufig fort, und wenn ich nicht für mich schreiben werde, werde ich mehr Zeit haben, an Dich zu schreiben, Deine erdachte, erschriebene, mit allen Kräften der Seele erkämpfte Nähe zu genießen - aber Du, Du wirst mich nicht mehr lieb haben können. Nicht weil ich nicht mehr für mich schreiben werde, sondern weil ich durch dieses Nichtschreiben ein schlechterer aufgelösterer, unsicherer Mensch werde, der Dir gar nicht wird gefallen können. Liebste, wenn Du die armen Kinder auf der Gasse glücklich machst, tue es auch bei mir, ich bin nicht weniger arm, Du weißt gar nicht, wie nahe ich dem alten Mann stehe, der am Abend mit dem unverkauften Vorrat nachhause geht - sei also auch zu mir so, wie Du zu den allen warst, selbst wenn sich Deine Mutter, wie auch wegen der andern, so auch hier, ärgern sollte (jedem ist seine Plage unbedingt auferlegt, so also den Eltern der Ärger über das schuldlose Wesen der Kinder): der langen Bitte kurzer Sinn, sag mir, dass Du mich liebbehalten wirst, wie ich auch sein werde, liebbehalten um jeden Preis, es gäbe keine Entwürdigung, die ich nicht auf mich nehmen würde - aber wo treibe ich da hin? Das sind also die Gedankenkreise dieses Gehirnes in den Ferien, wenn es sich ausruht! Habe ich nicht bei solchen Umständen allen Grund, mich ordentlich ans Bureau zu halten, wie der Wind alle Rückstände durchzuarbeiten und ein ordentlicher, aufmerksamer Beamter zu werden, der mit ganzem Kopf bei der Sache ist. Es bleibt nur der Einwand, daß mich vielleicht diese zwei ersten freien Tage verwirren, dass ich in der Eile nicht weiß, wo ansetzen, schließlich erinnere ich mich kaum bessere Weihnachten gehabt zu haben (morgen werde ich für Dich ein wenig die alten Tagebücher nachschlagen) - aber dieser ganze Einwand ist nicht sehr schwer zu nehmen. Hier gilt doch nur wie überall Entweder - Oder. Entweder kann ich etwas oder nicht und diesmal bleibt es beim "Oder". Wenn nur hinter der Frage: "Liebst Du mich, Felice?" die großen "Ja" hintereinander gehn bis in alle Ewigkeit, dann läßt sich alles überwinden.

Franz


Kleine Geschichte: Vgl. Brief vom 26. Dezember. Das Fragment dieser Erzählung ist offenbar nicht erhalten.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at