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[An Felice Bauer]
[Prag, 20. Dezember 1912; Freitag]

vom 20. zum 21. XII. 12

Der dritte Abend schon, Liebste, an dem ich nichts geschrieben habe, ein schlechter Anlauf vor Weihnachten. Und die Weihnachtsferien selbst werden zweifelhaft, die Hochzeit meiner Schwester ist zwar - ich glaube, ich habe es Dir noch nicht geschrieben - aus Kriegsfurcht verlegt worden, aber es ist höchst unsicher, ob ich mir die zwei Urlaubstage, auf die ich gehofft habe, werde nehmen können. Ich habe andauernd sehr viel zu tun und je mehr kommt, desto kleiner wird meine Lust oder besser desto größer mein Widerwillen. Solange ich selbst im Bureau bin, kann ich diesen hoch mit Rückständen bedeckten Tisch mit Einsetzung allerdings schon des letzten persönlichen Einflusses noch verteidigen, bleibe ich aber zuhause, dann steht mein Tisch allen frei und es ist gar nicht anders möglich, als dass tagsüber ununterbrochen einander ablösend kleine Explosionen von Rückständen stattfinden, was mir nach meiner Rückkehr sehr unangenehm werden könnte. Aber trotzdem - wie ich es hier so niederschreibe, finde ich es unerträglich, die zwei Tage zu verschwenden, denn viel mehr als die Verteidigung meines Schreibtisches würde ich nicht fertigbringen, und so werde ich es wahrscheinlich doch noch wagen.
Wie ist es denn mit Deiner Arbeit, mein Mädchen? (Ich habe heute das Gefühl, dass Du jetzt ruhiger, zufriedener bist und dass aus Deinen lieben Augen wieder jener freundliche und doch beherrschende Blick kommt, der mich für Zeit und Ewigkeit getroffen hat.) Wirst Du denn immer mit aller Arbeit fertig? Fallen keine Briefe unter den Tisch und verschwinden? Gibt es kein Geheimfach, wo sich alte, unerledigte Sachen wie ekelhafte Tiere drängen? Hast Du ein gutes Gedächtnis? Ich habe keines und arbeite nur mit dem allerdings grenzenlosen Gedächtnis meines auch sonst bewunderungswürdigen Chefs. Hat er einmal wirklich etwas vergessen, was ich brauche, so fange ich seine Erinnerung mit unsichern, allgemeinen Bemerkungen zu locken an, und es dauert nicht lange und er weiß es. Es gibt Menschen, die nur ein hilfsbereites Gesicht, und sei es das Gesicht eines noch so ohnmächtigen Menschen, vor sich haben müssen, um sich sofort an alles zu erinnern. So selbständig wie Du wohl arbeitest, könnte ich gar nicht arbeiten, Verantwortungen weiche ich aus wie eine Schlange, ich habe vielerlei zu unterschreiben, aber jede vermiedene Unterschrift scheint mir ein Gewinn, ich unterschreibe auch alles (trotzdem es eigentlich nicht sein darf) nur mit FK, als könne mich das entlasten, deshalb fühle ich mich auch in allen Bureausachen so zur Schreibmaschine hingezogen, weil ihre Arbeit, gar durch die Hand des Schreibmaschinisten ausgeführt, so anonym ist. Ergänzt und aufgehoben wird allerdings diese sonst lobenswerte Vorsicht dadurch, dass ich mit jenem FK auch die wichtigsten Sachen, ohne sie durchzulesen, unterschreibe und dass infolge meiner Vergeßlichkeit alles, was einmal von meinem Tische wegkommt, für mich niemals vorhanden gewesen ist. Ob ich, der ich mich letzthin um einen Platz in Deinem Bureau beworben habe, durch das alles sehr empfehlenswert werde?
In Deinem heutigen Brief ist ein Tagebuch erwähnt? Existiert das noch?Wird es auch noch heute geführt? Und diesen Wortlaut "ich liebe ihn und niemals, wer auch je meinen Weg kreuzen... " hast Du mit 15 Jahren niedergeschrieben? Liebste, hätte ich Dich doch damals gekannt! Wir wären nicht so weit von einander entfernt, glaube ich. Wir würden an einem Tische sitzen, aus einem Fenster auf die Gasse sehn. Wir würden nicht einer um den andern zittern, es gäbe keine Unmöglichkeit. Aber dann sage ich mir wieder, und darin zeigt sich die Bedingungslosigkeit des Ganzen, vor zehn Jahren, aber auch noch vor zwei und selbst vor einem war ich in vielem leider besser, im Wesen aber viel unsicherer und selbst unglücklicher als heute, und so ist es vielleicht wieder jetzt die richtige Zeit für das Erscheinen jenes Menschen gewesen, der mir der liebste auf der Erde werden sollte.
Heute suchte ich etwas auf meinem Schreibtisch zuhause (auch dieser Schreibtisch läßt sich nicht ordnen, man kann bloß in ihm suchen; nur ein Schubfach ist geordnet und versperrt, dort sind Deine Briefe), da habe ich einen alten Brief gefunden, der aus jener einmonatlichen Wartezeit stammt und Dir gehört und den ich Dir deshalb, trotz seines nicht sehr gefälligen Zustandes schicke. Wenn ich ihn lese, er hat leider kein Datum, so sehe ich unter unsinnigen weitern Hoffnungen (wie vieles schreibe ich gegen meinen Willen, nur weil es aus mir hervorgestoßen wird; schlechter, elender Schriftsteller!), dass alles so viel schöner geworden ist und dass man glauben möchte, dass der gute Stern, der uns geführt hat, niemals über uns auslöschen wird. Kind, wie schreibst Du nur heute so sonderbar! Fahnenflüchtig könnte ich werden? Welche Fahne wäre das? Es müßte höchstens die Fahne meines Lebens sein. Und das geschieht mit Willen nicht; dazu fühle ich mich trotz alles Jammers allzusehr mitten im Kampf. Also mit Willen und von meiner Hand geschieht es nicht.
Und nun leb wohl, Mädchen, Mädchen! Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag, freundliche Eltern, feines Essen, langes Spazierengehn, freien Kopf. Morgen fange ich wieder mein Schreiben an, ich will mit aller Kraft hineinreiten, ich fühle, wie ich mit unnachgiebiger Hand aus dem Leben gedrängt werde, wenn ich nicht schreibe. Und morgen habe ich vielleicht einen weniger trüben Brief als den heutigen aber einen ebenso wahrhaftigen, denn Rücksichtnahme schmerzt mich mehr als Wahrheit.

Franz

[Beigelegt der nicht datierte Brief "aus jener einmonatlichen Wartezeit“: 28. September - 23. Oktober 1912]

Gnädiges Fräulein!
Lassen Sie mich Ihnen schreiben, auch wenn Ihre Antwort auf meinen letzten Brief noch sehr im Unsichern ist; das Nichtschreiben macht mir Kopfschmerzen, es macht Sie mir unsicher und mich selbst. Es entstehen in mir beginnende Gewohnheiten, die es mir zur Pflicht machen, Ihnen zu schreiben, wie könnte ich mich von dieser nicht zu regierenden Pflicht durch ein Nichtantworten von Ihrer Seite befreien. Es gab eine Nacht, wo ich im Halbschlaf ununterbrochen Briefe an Sie schrieb, im Gefühl war es ein ununterbrochenes kleines Hämmern.

Franz K

21.XII. 12

Ein Anhang aus der Gegenwart: Bitte schreibe mir von Sonntag ab in die Wohnung für jeden Fall. Erst nächsten Freitag möchte ich die Briefe wieder ins Bureau bekommen. Und wohin soll man Dir schreiben?


Schwester: Valli (Valerie) Kafka. Die Heirat fand im Jänner 1913 statt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at