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[An Felice Bauer]
[Prag, 20. Dezember 1912; Freitag]

20. XII. 12

Aber Liebste, woher kommt nur diese Deine Unruhe, leben wir denn nicht gerade so friedlich nebeneinander, als es nur in diesem Jammer möglich ist? Was überkommt Dich? Du bist gleichzeitig die Ruhe und die Aufregung meines Herzens, stelle Dir meinen Herzschlag vor, wenn Du in einem solchen Zustande bist. Ich habe Deinen Brief mit heißen Wangen so oft gelesen in der Hoffnung, irgendein Friede, irgendeine Fröhlichkeit würde sich doch irgendwo zeigen. Es ist gewiß nur die Laune eines unglückseligen Abends gewesen, und auch mein aufgeregter Fetzen aus dem Bureau, den ich nun doch schon mitschicke, ist eigentlich nicht mehr wahr. Denn ich weiß, morgen kommt wieder ein zuversichtlicher Brief meines starken Mädchens, das nur für eine Mitternachtsstunde von der Müdigkeit und schrecklichen Plage so hingeworfen wurde.
Ich habe mit der besten Absicht den zweiten täglichen Brief gelassen, weil ich dachte, wir würden beide mehr Ruhe und mehr Vertrauen bekommen. Dieses zweimalige Anknüpfen und zweimalige Abreißen täglich war für mich schrecklich und hat mich durch den Vormittag und dann wieder durch den Nachmittag ununterbrochen gejagt und geängstigt. Ein solches nutzloses Andrängen an etwas Unmögliches, d.h. an Deine Gegenwart, muß aber nicht nur mich, sondern auch Dich, Liebste, immer von neuem entsetzen. Aber vielleicht hast Du doch recht. Einmal täglich muß ich Dir schreiben, sonst würde ich lieber alles lassen, sonst wüßte ich nicht, wohin mit mir - und die Gegenwart wird damit doch auch nicht erreicht, nun so werde ich wieder zweimal schreiben, wenn es Dir nur einen Hauch mehr Ruhe gibt. Daran liegt es nicht, ob ich in der Stimmung bin für jenen Brief an Dich, daran liegt es nicht, daran liegt es aber, ob ich bei zweimaligem Schreiben noch die Stimmung für das übrige, was man rings um mich verlangt, auch nur halbwegs aufbringe. Denn dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Dir, das ich im Innersten habe, durch dieses zweimalige Schreiben mir völlig ums Gesicht schlagen lassen, das ist doch vielleicht ein Wagnis in dieser traurigen Ferne, in der ich leben muß.
Nun laufe ich aber wieder, denn ich muß zum Max bei einem Notariatsakt assistieren. Ja heute hast Du ja vor Gericht geschworen und wieder Unannehmlichkeiten gehabt. Laß Dich küssen, liebstes, bleiches, geplagtes Kind! Der, welcher sich da unterschreibt, gehört Dir nicht wie eine Sache in Deinem Zimmer, sondern so, wie Du willst und für immer.

Dein Franz

[Beigelegt auf einem Formular - List objednávací - der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

Liebste, nur um mir die Sorge um Dich für einen Augenblick zu erleichtern, schreibe ich auf dieses Papier, das mir gerade zunächst liegt. Bitte, bitte, sei nicht so unruhig, das kann ja gar nicht gut enden. Könnte ich Dich doch da auf den Sessel neben mich niedersetzen, Dich halten und Dir in die Augen sehn. Es ist etwas vom Irrenhaus in meinem Leben. Unschuldig und freilich auch schuldig bin ich, nicht in eine Zelle, aber in diese Stadt eingesperrt, rufe das liebste Mädchen an, will sie ruhig und glücklich haben, aber tatsächlich rufe ich nur die Mauern und das Papier an und mein armes Mädchen leidet.

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at