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[An Felice Bauer]
[Prag, 19. Dezember 1912; Donnerstag]

vom 19. zum 20.XII.12

So, mein liebstes Mädchen, nun ist wieder Abend nach einem durchwachten Nachmittag geworden (durchwachter Nachmittag klingt ärger als durchwachte Nacht), geschrieben wird nichts mehr, nur noch an dieses Mädchen, an das man immerfort schreiben, von dem man immerfort hören, bei dem man immerfort sein, in dem man am liebsten vergehen möchte.
Aber ich bitte Dich, Du Liebste, antworte doch einmal rund heraus, wie ist denn das? Du, die Du mir schriebst, dass Du niemals krank seist (ich hatte Dich gar nicht danach gefragt, denn man sah Dir doch die Gesundheit von den Wangen und Augen ab), Du wanderst jetzt bei den Ärzten herum, Du leidest seit Wochen wohl jeden Tag, man sagt Dir zum Spaß und meint es doch im halben Ernst, Du sähest aus wie eine Leiche auf Urlaub (eine Redensart, die mir sehr gefiele, wenn sie nicht gerade auf Dich angewendet würde), Du hattest in der letzten Zeit Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Mattigkeit und alles dieses wiederholt und ohne dass es es eigentlich aufhörte - Liebste, das können wir doch nicht ruhig hinnehmen, wie? Da müssen wir doch Ordnung zu machen suchen, nicht? Also wie wirst Du nun anfangen Dich zu schonen, darüber mußt Du mir sofort und genau schreiben, denn ich bin an Deinen Leiden genau so beteiligt wie Du. Ich bekomme nicht gerade Halsschmerzen, wenn Du Halsschmerzen hast, aber wenn ich es höre oder ahne oder auch nur fürchte, leide ich darunter auf meine Weise nicht weniger. Und noch mehr leide ich unter Deiner Müdigkeit und noch mehr unter Deinen Kopfschmerzen. Und wenn Du dann Aspirin nimmst, dann wird mir auch körperlich übel. Heute während der ganzen Nacht, also von ½ 4 bis ½ 8, und noch am Beginn des Vormittags fühlte ich einen fremdartigen Druck in mir, wie ich ihn in den 30 Jahren meines bisherigen Lebens niemals an mir erkannt habe, er ging nicht vom Magen, nicht vom Herzen, nicht von der Lunge aus, aber vielleicht von allen insgesamt. Am Tageslicht verlor er sich. Wenn Du gestern Aspirin genommen hast, so war es bestimmt die Folge dessen, wenn nicht, dann war es die Folge des vorigen Aspirins, wenn auch das nicht, so war es vielleicht die Folge des schlechten Schreibens und wenn schließlich selbst das nicht, dann bin ich vielleicht bloß ein Narr, der Dir die Hände in Gedanken so oft an die Schläfen legt und seinen Küssen die Kraft wünscht, Dir alle Kopfschmerzen aus der grauesten Vergangenheit bis in Deine goldene Zukunft von der Stirne zu küssen. Antworte also, Liebste, was wirst Du tun, so darf es doch nicht weitergehn. Du mußt Dir genug Zeit zum Schlafen und Spazierengehn verschaffen, koste es was es wolle. Du mußt gleich nach Bureauschluß das Bureau verlassen, Du mußt spazierengehn, und zwar nicht allein entlang der Stadtbahn, sondern in der Gesellschaft, die Dir paßt. (Ja gehst Du denn nicht schleifen? Vom Turnen höre ich auch schon längere Zeit nichts mehr.) Wenn man die Arbeit beim Professor unterbrechen könnte, wäre es gewiß auch nicht schlecht; mir kannst Du abend schreiben, gewiß, bei Tag hast Du ja keine Zeit, und mich selbst dazu zu verurteilen, nicht jeden Tag Nachricht von Dir zu haben, dazu fehlt mir durchaus die Kraft; aber ich will die Zähne zusammenbeißen, und dann wird mir eine Karte täglich solange genügen, solange Du nicht vollständig, bis in den Grund hinein, dauernd, auch Deine Mutter überzeugend, so frisch und ausgeruht bist, wie Du es früher warst. Ich bin begierig auf den großen Beifall, den meine Vorschläge finden werden (für den Fall habe ich dann noch ganz andere in Bereitschaft) und die übrigen gleichwertigen Vorschläge, mit welchen Du die meinen noch ergänzen wirst.
Bis Du dann wieder so kräftig bist, dann will ich allerdings viel, viel über Deine Kindheit hören, Dein letzter Brief hat mir eine unsinnige Lust darauf gemacht. Es hat ja natürlich Nachteile, ein spätgeborenes Kind zu sein, aber die Vorteile gegenüber den Erstgeborenen, von denen ich ein trübsinniges Musterbeispiel bin, sind doch sehr groß. Diese Spätgeborenen haben um sich herum gleich eine solche Mannigfaltigkeit zum Teil der schon durchkosteten, zum Teil der erst angestrebten Erlebnisse. Erkenntnisse, Erfahrungen, Erfindungen, Eroberungen ihrer übrigen Geschwister und die Vorteile, Belehrungen, Aufmunterungen eines so nahen, so beziehungsreichen verwandtschaftlichen Lebens sind ungeheuer. Auch ist für sie die Familie schon viel sorgfältiger ausgebildet, die Eltern sind, soweit es bei ihnen möglich ist, durch Fehler belehrt worden (allerdings auch durch Fehler eigensinniger geworden), und diese später Geborenen sitzen einfach von selbst schon wärmer im Nest, man kümmert sich zwar weniger um sie, da schwankt Vorteil und Nachteil, und niemals wird der Nachteil schwerer, aber sie brauchen es gar nicht, denn alles sorgt sich unbewußt und darum besonders eindringlich und unschädlich um sie. Ich bin der älteste von sechs Geschwistern, zwei Brüder, etwas jünger als ich, starben als kleine Kinder durch Schuld der Ärzte, dann war eine Zeitlang still, ich war das einzige Kind, bis dann nach 4, 5 Jahren die drei Schwestern durch 1, beziehungsweise durch 2 Jahre getrennt anmarschierten. So habe ich sehr lange allein gelebt und mich mit Ammen, alten Kindermädchen, bissigen Köchinnen, traurigen Gouvernanten herumgeschlagen, denn meine Eltern waren doch immerfort im Geschäft. Von dem allen ist viel zu erzählen. Aber nicht in dieser Nacht deren 12te Stunde gerade zu meinem Schrecken schlägt. Leb wohl, meine Liebste, und auf die Gefahr hin, Dich zu wecken, auf die Gefahr hin, Dich zu wecken, ich küsse Dich
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Franz


Zwei Brüder: Georg (1885 - 1886) und Heinrich (1887 - 1888) Kafka.
Drei Schwestern: Gabriele ("Elli") (1889 - 1941), Valerie ("Valli") (1890 - 1942) und Ottilie ("Ottla") (1892 - 1943) Kafka.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at