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[An Felice Bauer]
[Prag, 18. Dezember 1912; Mittwoch]

vom 18. zum 19.XII.12.

Liebste, ½3, der Nachmittag mit Max mit Ansehen von Wohnungseinrichtungen verbracht, der Abend mit der Familie, die anfängliche Nacht mit flüchtiger Arbeit, jetzt über Deinem Brief, liebstes Mädchen, fängt etwas spät mein eigentlicher Tag an.
Das soll also die traurige kleine Schreibmaschinistin von Weißensee sein? Aber sie ist doch munter und frisch und bringt durch die Beugung ihres rechten Knies fast die ganze etwas steife Reihe der andern ein wenig fürchterlich christlich aussehenden Mädchen in Marschbewegung. Hattest Du unter ihnen Freundinnen? Sag es, und sie werden mir sofort lieb sein, selbst die große furchterregende Schwarzgekleidete wird mir dann lieb und vertraut sein. Mit welchem prüfenden Blick Du aus dem Bild hervorschaust! Wie Dich Deine rechte Nachbarin fest in der Taille hält, als wüßte sie wirklich ganz genau, wen sie hält. Du hast ein Buch in der Hand, was ist es für ein Buch? Dort in Weißensee habt Ihr wohl ein richtiges Landleben geführt. Die Büsche, der Zaun, die Glastüre im Hintergrund sehen wenig bureaumäßig aus. Ich wüßte so gern etwas von Dir aus jener Zeit, wo Du noch so glücklich warst, nur unter dem Bureau zu leiden. Wie war Deine Vorgesetzte? Du liefst ihr wohl nicht mit einer Rose zur Schneiderin nach, wenn sie böse war? Und wie war der Kampf mit der Sekretärin in Deiner jetzigen Stellung? Was hat ihn entschieden?
Vorläufig, Liebste, schicke ich Dir keine Photographie. Die nächste soll das gute Bild sein, von dem ich Dir geschrieben habe, ohne es allerdings noch bestellt zu haben, denn es ist ein wenig umständlich zum Photographen zu gehn, aber in den nächsten Tagen tue ich es. Aus allerletzter Zeit habe ich kein Bild, Gruppenaufnahmen habe ich wenigstens keine im Besitz, auch haben mir die Gruppen, in denen ich gelebt habe, keine große Freude gemacht (Mädchen unter Mädchen leben besser und wärmer als Männer unter Männern) und die andern Bilder will ich vorläufig nicht schicken, weil ich Angst bekommen habe, dass ich auf allen, ohne Schuld und ohne Richtigkeit, ein wenig merkwürdig ausschaue. Erzählen freilich muß ich Dir noch vieles, da wollen wir uns an den Sonntagen in die alten Zeiten werfen.
Aber Liebste, ich schreibe da ruhig weiter und Du bist vielleicht krank? In dem Brief nach Schillings Flucht sprichst Du gar von der Möglichkeit einer Influenza. Gottes willen, Liebste, der mein Leben gehört, schone Dich! Ich gestehe, dass ich, wenn der Gedanke an Dein Kranksein kommt, nicht zuerst daran denke, dass Du leidest, sondern dass ich dann möglicherweise keine Nachricht von Dir bekomme und mich dann, herumgejagt vor Verzweiflung, an allem wundschlagen werde, was mich umgibt. Am Dienstag hatte sich der Halsschmerz zum Schnupfen gelöst, das ist doch wohl eine Besserung in diesen mir ganz unbekannten Erkältungen. Aber die Kopfschmerzen halten Dich noch? Ich sehe, wie Du, nachdem Du den letzten Brief geschlossen hast, das Aspirin hervorholst und schluckst; ich schaudere.
Ich war also heute bei Brods, ich wäre sowieso hingegangen, aber einen besonderen Grund zur Eile hatte ich nach Deinem zweiten Morgenbrief deshalb, weil ich - das ist zweifellos närrisch - noch die Karte erwischen wollte, die Du an Sophie F. geschrieben hast, denn ich kann gar nicht genug Geschriebenes von Dir sehn. Ich freute mich ganz wild darauf, diese an einen andern gerichtete Karte ein Weilchen lang in Händen zu halten, sie langsam zu lesen und mir dabei sagen zu können: "Es ist von dem liebsten Mädchen." Alles verlief ausgezeichnet, ich hatte die Fragen harmlos arrangiert, trieb alle vorsichtig zu der entscheidenden Antwort hin, um dann aber schließlich zu hören, dass Herr Dir. Brod Sophies Post, darunter allerdings auch Deine Karte, ihr nach Wien vor etwa ½ Stunde nachgeschickt habe. Ich mußte mich zurückhalten, um nicht auf den Tisch zu schlagen.
Infolge des Sturmwetters draußen - vor einem Augenblick hat sich durch die allgemeine Erschütterung die allerdings schlecht schließende Wohnzimmertür von selbst geöffnet - muß ich die Uhr von draußen - ich weiß gar nicht, welche es ist, man hört sie nur in der Nacht - vollständig überhört haben, denn es ist schon ½4. Also leb wohl meine Liebste. Nein, so dachte ich das Alleinsein mit Dir nicht, wie Du es meinst. Wenn ich etwas Unmögliches wünsche, will ich es ganz. Ganz allein also, Liebste, wollte ich mit Dir sein, ganz allein auf der Erde, ganz allein unter dem Himmel und mein Leben, das Dir gehört, unzerstreut und ganz gesammelt in Dir führen
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Franz


F.: Friedmann. Max Brods Schwester.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at