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[An Felice Bauer]
[Prag, 17. Dezember 1912; Dienstag]

Nacht vom 17. zum 18.XII.12

Mein liebstes Mädchen, das ganze heutige Schreiben an meinem Roman war nichts anderes als unterdrückte Lust, Dir zu schreiben, und nun bin ich auf beiden Seiten gestraft, das dort Geschriebene ist recht elend (um nicht immerfort zu klagen, gestern war eine schöne Nacht, ich hätte sie ins Unendliche fortsetzen können und sollen) und für Dich, Liebste, bin ich von dorther verärgert und ganz und gar unwürdig.
Könnte ich doch ein Weilchen in Deinem schönen Bureau verbringen, wo mir alles freundlich scheint! Könnte ich doch eines Deiner kleinen Mädchen für einen Tag lang ersetzen, dieser Mädchen, die immerfort Freiheit haben, wann sie wollen, zu Dir hinzulaufen und Dich zu küssen und zu umarmen. (Warum sie Dich wohl damals geküßt haben als das Buch ankam und warum sie Dich besonders aufgeregt geküßt haben? Es kann nur aus einem unbewußten, ebenso tief als wahr gefühlten Mitleid gewesen sein, dass ihre große Freundin mit einem Menschen wie mir - nicht weiter, ich kränke Dich und mich) Aber Deine Nähe, Liebste, brauchte ich so sehr. Könnte ich doch in Deinem Bureau sein! Wenn ich vor meinem traurigen Bureauschreibtisch stehe - er ist wohl einige Male größer als der Deinige; er muß so groß sein, sonst könnte er die Unordnung nicht fassen - und daran denke, dass es doch am Ende gar nicht so unmöglich wäre, dass wir in einem Bureau wären, bekomme ich Lust, die Tische umzuwerfen, das Glas der Schränke einzuschlagen, den Chef zu beschimpfen, und da mir schließlich doch die Kraft zur Ausführung solcher augenblicklicher Entschlüsse fehlt, tue ich nichts von alledem, stehe still wie früher mit irgendeinem angeblich von mir gelesenen Papier in der Hand, schaue aber in Wirklichkeit ganz verschlafen darüber hinweg zur Tür, die sich für den Überbringer Deines Briefes öffnen soll. Sieh Dich mal in Deinem Bureau um (das Du mir übrigens noch gar nicht beschrieben hast) ob dort nicht, auch nur in irgendeiner Ecke, ein Plätzchen für mich übrig wäre. Nenn mir dann den Platz genau und ich werde ihn, wenn schon nicht in Wirklichkeit so doch nicht weniger bestimmt, tagtäglich einnehmen und wenn Du willst, werde ich Dir auch in meinem Bureau einen Platz anweisen (ich finde keinen passendern als den hart neben mir) und so werden wir, wenn auch nicht in einem Bureau, so doch in zwei gemeinsam sitzen. Du wirst davon übrigens den ungeheuern Vorteil haben, dass ich am Abend, wenn Du allein im Bureau bist, um an mich zu schreiben, alle Mäuse rings um Deinen Tisch herum von Dir abhalten und verjagen werde; während ich dagegen den Nachteil davon haben werde, dass mir wahrscheinlich an solchen Abenden die ruhige Überlegung fehlen wird, Dich die Briefe an mich fertigschreiben zu lassen und dass ich statt dessen zu Dir hingehn und die Hände, die schreiben wollen, halten und nicht mehr loslassen werde.
Deine kleinen Mädchen handeln schön und rührend, aber ohne mich zum Staunen zu bringen, denn alles ist genau nach meinem Sinn. Von Deinem Bureau kann ich nicht genug hören. In Bureaux, wo viele Mädchen sind, geht es doch ganz anders zu als unter Männern. Mein Schreibmaschinist würde mich z.B. niemals beim Schneider mit einer Rose erwarten (das Komische dieser Vorstellung kann Dir nicht eingehn, Du müßtest den Mann, den ich übrigens sehr gern habe, selbst sehn) dafür kann er allerdings anderes und hat z.B. vor glaubwürdigen Zeugen in einer Folge 76 unserer Einkreuzersemmeln und ein anderes Mal 25 harte Eier aufgegessen, Kunststücke, die er täglich mit Freuden wiederholen würde, wenn er die Mittel dazu hätte. Besonders lobt er das angenehme Wärmegefühl, das man nach 25 harten Eiern haben soll.
Aber womit verbringe ich da um Gottes willen die paar Augenblicke, die ich auf dem Papier mit Dir beisammen bin! Ich habe Dir natürlich in meinem gestrigen Brief Unrecht getan, Du liebstes und gütigstes Mädchen! (Wozu bin ich denn sonst da, als Dir Unrecht zu machen?) Du warst am Sonntag müde (hast auch nicht gekocht, trotz Deines vorwöchentlichen, der Mutter gegebenen Versprechens) hast auch, wie ich in meinem Kopfe fühlte, wenigstens noch am Montag Kopfschmerzen gehabt (und auch Halsschmerzen? Die Schande! Die Schande! Deine und meine! Die Geliebte eines Naturheilmenschen hat Halsschmerzen!) aber trotz allem hast Du mir am Sonntag geschrieben, nur ist der Brief und die Karte mit einer mir vorläufig noch unerklärlichen Post wahrscheinlich erst am Montag abend ins Bureau gekommen. Jedenfalls bekam ich Brief und Karte Dienstag gleich unten beim Portier, Ihr Himmlischen! Wie bin ich die Treppen hinaufgetanzt!
Eine wichtige Sache fehlt in Deinen Briefen, Liebste! Ich finde kein Wort von Deiner Mutter und keines über meine die Briefgeschichte betreffenden Theorien vom Sonntag. Ist das ein gutes, ist es ein schlechtes Zeichen? Die Karte vom Fest habe ich nicht bei der Hand, ich habe sie im Bureaurock vergessen, aber ist dort nicht eine Tony Bauer unterschrieben und sind nicht bei dem Namen auch Grüße hinzugefügt? Ist das Deine Schwester? Und wer sind die anderen? dass keiner Deiner Tänzer im Tanzen mit mir verglichen werden konnte, glaube ich gern. Mein Nichttanzenkönnen wird ja verschiedene Gründe haben. Vielleicht hätte ich mehr allein üben sollen, wenn ich mit Mädchen tanzte, war ich immer sowohl allzu befangen als auch allzu zerstreut. Ich erinnere mich, in unserer Tanzstunde war ein junger, zweifellos sehr energischer Mensch, der immer, wenn ringsherum die Paare tanzten, allein in einer Ecke das Tanzen übte. Ob er es auf diese Weise erlernt hat, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich oft zu ihm hinübergeschaut und ihn um seine Entschlossenheit und Freiheit beneidet habe.
Sophie F. ist schon wieder weg, sie haben Ferien gemacht und sind, glaube ich, auf den Semmering gefahren. Daß Du ihr schon lange nicht geschrieben hast, freut mich herzlich. Übrigens hat sie sich auch für diese Freude, wie ich Dir schon beschrieben habe, ausreichend gerächt. - Schluß und wieder allein. Franz.


Tony Bauer: Felicens jüngere Schwester, die ebenfalls als Stenotypistin bei der Firma Carl Lindström (Berlin) tätig war.
F.: Friedmann. Max Brods Schwester.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at