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[An Felice Bauer]
[Prag, 14. Dezember 1912; Samstag]

vom 14. zum 15. XII

Liebste, heute bin ich zu müde und auch zu unzufrieden mit meiner Arbeit (wenn ich genug Kraft hätte, meiner innersten Absicht zu folgen, würde ich alles, was ich vom Roman fertig habe, zusammendrücken und aus dem Fenster werfen) um mehr als paar Worte zu schreiben; aber schreiben muß ich Dir, damit das letzte vor dem Schlaf geschriebene Wort an Dich geschrieben ist und alles, Wachen und Schlaf, noch im letzten Augenblick einen wahren Sinn bekommt, wie es ihn von meiner Schreiberei nicht erhalten kann. Gute Nacht, arme, geplagte Liebste. An meinen Briefen hängt ein Fluch, den selbst die liebste Hand nicht vertreiben kann. Selbst wenn die Plage, die sie Dir unmittelbar angetan haben, vorüber ist, raffen sie sich noch einmal auf und plagen auf eine neue, elende Weise. Armes, liebes, ewig müdes Kind! Die Scherzantwort auf die Scherzfrage: Ich kann Dich, liebstes Mädchen, gar nicht leiden. Der Sturmwind, der draußen ist! Und ich sitze hier schwerfällig vor dem Papier, kann es nicht fassen, dass Du diesen Brief einmal in Deinen Händen halten wirst, und das Gefühl der großen Entfernung, die zwischen uns ist, legt sich mir auf die Brust. Weine nicht, Liebste! Wie stellt es denn dieses ruhige Mädchen, das ich an jenem Abend sah, wie stellt sie es nur an zu weinen! Und wie stelle ich es denn nur an, sie weinen zu lassen und nicht bei ihr zu sein! Aber es ist kein Grund zum Weinen, Liebste! Warte, morgen werde ich und muß ich die wunderbarsten, trostreichsten, scharfsinnigsten Einfälle darüber haben, wie uns wegen der von Deiner Mutter vielleicht gelesenen Briefe zu helfen ist. Also sei, wenn meine mit Liebe, also mit Zauberei ausgestattete, jetzt in der Richtung gegen Berlin erhobene Hand etwas zu bedeuten hat, wenigstens während des Sonntags ruhig! Habe ich etwas ausgerichtet? Ich gehe doch nicht am Ende, ebenso wie meinem Roman gegenüber, auch Dir gegenüber erfolglos ins Bett? Wenn es so sein sollte, dann soll mich wirklich der Teufel holen, und zwar mit der Gewalt dieses Sturmwindes draußen. Aber nein, vielleicht tanzt Du heute gar und ermüdest Dich weiter. Ich mache Dir keinen Vorwurf, Liebste, ich möchte Dir nur so gerne helfen und weiß mir keinen Rat. So sehen freilich auch die wahren Ratgeber nicht aus wie ich. Gute Nacht! Ich sehe, dass ich vor Müdigkeit immerfort dasselbe schreibe, tue es zu meinem Vergnügen, um mir das Herz leichter zu machen und denke nicht daran, dass die übermüdeten, verweinten, aus der Ferne rot geküßten Augen es auch lesen werden.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at