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[An Felice Bauer]
[Prag, 12. Dezember 1912; Donnerstag]

12. XII. 12

Liebste, das solltest Du nicht! Versprechen, dass ein zweiter Brief kommt und es nicht halten. Ich weiß, Du hast keine Zeit und ich verlange ja auch den zweiten Brief nicht, aber sieh doch, wenn Du es so ausdrücklich versprichst wie in Deinem heutigen Morgenbrief und der Brief kommt dann nicht, so muß ich ja Sorge haben. Ist es anders möglich? Wenn ich irgendeine Unsicherheit bei Dir befürchte, bin ich eben auch unsicher und noch weniger wert als sonst. Heute ist es ja nicht so arg. Dein Mittagsbrief war lieb und beruhigend und wenn Du "Morgenrot" liest, so bist Du wenigstens von dieser Seite gut beschützt. Aber wenn der versprochene Brief nicht kommt, reicht das alles für mich nicht vollständig aus.
Danke für den Aufsatz von Herzog. Ich habe schon manches von ihm gelesen, er hat eine recht schwache, peinlich nachgedrückte Art zu schreiben, deren Trockenheit er immer wieder mit mißlungenen Versuchen (in jedem Satz) zu beleben sucht. Ich bin zu müde, um das klarer auszudrücken. Seine Grundmeinung ist hier, wie auch sonst, sehr löblich und wahrheitsgemäß durchfühlt. Die Unsicherheit seines Schreibens, die Abgerissenheit des Denkens, gegen die er sich wehrt, ein zweifelloses, nur eben nicht bis zum Schreiben vordringendes Temperament machen seine Aufsätze charakteristischer als es Arbeiten weit besserer Schriftsteller sind. Wenn er gute Bücher empfehlen wollte, dann hat er mit diesem Aufsatz sehr recht, wenn er das "Moderne" definieren wollte, dann hat er noch nicht einmal unrecht, denn er hat für ein solches Resultat außer Plattheiten nicht das Geringste vorbereitet. Imponierend ist nur die ausführliche Besprechung Werfels als Krone des Aufsatzes. Weißt Du, Felice, Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch "Der Weltfreund" zum ersten Mal las (ich hatte ihn schon früher Gedichte vortragen hören) dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheueres. Übrigens hat er auch schon seinen Lohn und lebt in Leipzig in einem paradiesischen Zustand als Lektor des Verlages Rowohlt (wo auch mein Büchel erschienen ist) und hat in einem Alter von etwa 24 Jahren völlige Freiheit des Lebens und Schreibens. Was da für Dinge aus ihm hervorkommen werden! Ich weiß gar nicht, wie schließen, da dieser fremde junge Mann zwischen uns getreten ist.

Franz


Aufsatz von Herzog: Wilhelm Herzogs Aufsatz "Was ist modern?" im Berliner Tageblatt vorn 10. Dezember 1912, Nr. 629.
bis zum Unsinn fortreißen: Vgl. Tagebücher 23. Dezember 1911 und 30. August 1912.
Büchel: "Betrachtung", Franz Kafkas erste Buchveröffentlichung.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at