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[An Felice Bauer]
[Prag, 10. Dezember 1912; Dienstag]

Nacht vom 10. zum 11. XII. 12

Nun ist also endlich das ganze liebe Mädchen da! Und durchaus nicht negerhaft, sondern so wie man sie im Kopf und Herzen hat. Und durchaus nicht traurig oder schlechtaussehend, sondern lustiger fast als alle. Nur leider so festgehalten auf beiden Seiten, dass man Riesenkräfte haben müßte, um sie hervorzureißen. Und leider so nahe neben ihrem Herrn, dass man, wenn man sie küssen will, notwendig diesen Herrn Rosenbaum (es scheint übrigens ein anderer zu sein) mitküssen müßte.
Übrigens ist es sonderbar, dass auf diesem nachts aufgenommenen Bild bei Tageslicht alle übernächtigt und fehlerhaft aussehn, während jetzt unter meiner elektrischen Tischlampe das Ganze sich so respekteinflößend ausnimmt, dass ich mich gar nicht innerhalb der Gesellschaft denken könnte. Wie lange habe ich auch schon keinen Frack getragen! Das letzte Mal wohl vor 2 Jahren bei der Hochzeit meiner Schwester. Und dieser nun schon durchaus altertümliche Frack stammt aus der Zeit meiner Promotion, ist also 6 Jahre alt, ohne in der Brust zu enge geworden zu sein. Und wie tadellos und gut getragen ist der Frack Deines Herrn, wie keck geschnitten ist die Weste!
Was ist das für ein Medaillon, was ist das für ein Ring, den Du trägst? (Deine Bemerkung über das Negergesicht bringt mich auf den Gedanken, dass noch eine zweite Photographie existiert. Ist es so, unvorsichtige Liebste?) Die Frau neben Dir ist wohl die Frau eines Direktors, die Hand zwischen Euch gehört wohl ihr? Wo ist aber Deine zweite Hand, und warum drängen Dich Deine beiden Nachbarn so? Oben umsäumt Deinen Rock eine Spitze, nicht wahr?
Zu dem Bild könntest Du mir gar nicht genug Erklärungen geben. Welche von allen den Leuten sitzen in Deinem Bureau? Das Frl. Brühl glaube ich zu erkennen, es ist doch die in dem merkwürdigen, aber vielleicht schönen schwarzen Kleid mit dem auffallenden Einsatz auf der Brust. Der einzige wirklich traurige Mensch ist der schief hinter Dir an der Säule. Er hat eine schwarze Krawatte und sieht aus, als ob er für alle zu sorgen und zu arbeiten hätte. Wo ist der Direktor Strauß und wo der Prokurist Salomon? Wo ist das Mädchen, mit dem Du tanztest? Wo ist die Großmann? Wo ist der Herr, der das Gedicht geschrieben hat?
Gestern nachts verlangte ich im Brief die Photographie, heute habe ich sie. Aber damit, Liebste, dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Wir müssen es so einrichten, dass im gleichen Augenblick, wo einer vom andern etwas verlangt, der Briefträger eilends eintritt, sei es zu welcher Tages- oder Nachtzeit immer. Die Post will sich übrigens mit uns aussöhnen. Heute brachte der Briefträger das erste gebundene Exemplar meines Büchleins (ich schicke es Dir morgen) und hatte zum Zeichen der Zusammengehörigkeit die Rolle mit Deinem Bild in den Umbund des Buches gesteckt. Aber auch darin gehn meine Wünsche unerfüllbar weiter.

Franz


Büchleins: "Betrachtung", Franz Kafkas erste Buchveröffentlichung.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at