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[An Felice Bauer]
[Prag, 8. November 1912; Sonntag]

Sonntag 7. XII. 12

Ach Liebste, trotzdem meine Frömmigkeit in ganz andere Gegenden verschlagen ist, für Deinen heutigen Brief hätte ich Lust, Gott auf den Knien zu danken. Woher kommt nur wieder diese Unruhe um Dich, dieses Gefühl des nutzlosesten Aufenthaltes in Zimmern, in denen Du nicht bist, diese Bedürftigkeit nach Dir ohne Grenzen! Das einzig Gute an der morgigen Reise, zu der ich mich noch überdies ordentlich vorbereiten muß, ist, dass ich Dir um paar Eisenbahnstunden näher sein werde. Übrigens bin ich morgen nachmittag, wenn alles gut geht, wieder in Prag, vom Bahnhof zu unserem Portier wird es einen Sturmlauf geben. Briefe, Briefe von Dir!
Heute plane ich eine höchst sonderbare Zeiteinteilung. Jetzt ist 3 Uhr nachmittags. Heute nachts bin ich erst um 4 Uhr ins Bett gekommen, bin dort aber dafür bis ½12 geblieben. Wieder war Dein Brief daran schuld. Sonst muß ich im Bett so lange bleiben, um ihn zu erwarten, heute aber kam er als Eilbrief (da es nun einmal geschehn ist, möchte ich fast sagen, Sonntagsbriefe müßten immer express geschickt werden) ich bekam ihn so bald, dass es noch zu früh war aufzustehn und nun dehnte ich mich im Nachgenuß des Briefes noch stundenlang vor lauter Glück.
Jetzt werde ich also spazierengehn, was ich im eigentlichen Sinn schon seit paar Tagen nicht getan habe, werde dann um 6 Uhr mich schlafen legen und wenn es geht, bis 1 oder 2 Uhr nachts schlafen. Vielleicht werde ich dann den Roman wieder in Griff bekommen und dann bequem bis 5 Uhr früh schreiben, länger nicht, denn um ¾6 Uhr früh geht mein Zug.
Liebste, bitte schone Dich. Wieder bis 3 Uhr aufgewesen. Es kann unmöglich der eigentliche Sinn des Chanukafestes sein, Dich todmüde zu machen. Also eine Rednerin bist Du? Sieh mal an! Sagte ich es nicht schon einmal? Wird der Prolog auch auf Ruth Bezug haben? "Ruth" hat die Lufthütte geheißen, die ich im letzten Sanatorium bewohnt habe. Es haben sich durch das 3 wöchentliche Wohnen in einer Hütte, über deren Türe "Ruth" stand, Beziehungen zu diesem Namen für mich gebildet und ich würde ihn gerne von Dir öffentlich ausgesprochen und gelobt wissen. - Noch eines nur, auf Freiersfüßen gehe ich nicht, täte ich es, ich müßte keinen Maler beneiden (der allerdings auf dem Selbstporträt wie ein verbrecherischer Affe aussieht), sondern könnte mich von der ganzen Welt beneiden lassen.

Franz

Liebste, Du vertraust schon stark auf unsere gedankliche Eintracht (wie sich zeigt mit Recht) wenn Du mich in dem Brief, den ich Sonntag bekomme, ermahnst, den Brief, den Du Sonntag bekommen sollst, nicht express weggeschickt zu haben. Aber es war ja nur die süße Schläfrigkeit und deshalb für den Entfernten ein besonders deutliches Zeichen Deines warmen Lebens.


Sonntag 7. XII. 12: Sonntag, 8. Dezember 1912.
Chanukafestes: Das "Lichtfest" zur Erinnerung an die Reinigung des Tempels in Jerusalem und die Weihe des wiedererbauten Altars, nachdem Judas Makkabäus im Jahre 164 v. Chr. die Syrier vertrieben hatte.
Sanatorium Sanatorium Just in Jungborn (Harz), Juli 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at