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[An Felice Bauer]
[Prag, 7. November 1912; Samstag]

vom 6. zum 7. XII. 12

Liebste, ich habe aus verschiedenen Gründen heute nichts geschrieben. Es waren da paar Briefe zu schreiben, ein Gesuch für das Bureau, die Notwendigkeit der Vorbereitung für die dumme Leitmeritzer Reise, außerdem war ich erst nach 7 Uhr abends schlafen gegangen und erst um 11 abends aufgewacht, endlich bringt mich die Leitmeritzer Reise wahrscheinlich trotz teufelsmäßiger Eile um eine Arbeitsnacht und der kaum aufgenommene Roman müßte dann wieder weggelegt werden - kurz es gibt einige Gründe dafür, dass ich ihn heute nicht fortgesetzt habe. Aber nicht der unwichtigste Grund dafür ist, dass ich heute ein ganz besonders unruhiges Verlangen nach Dir habe. Ob Dir nur gut ist? Ob Du an mir nicht allzuviel auszusetzen hast? Ob Dir gerade heute viel an mir gelegen ist? Liebste, ich habe heute wohl während des ganzen Schlafes von Dir geträumt, erinnerlich sind mir aber nur zwei Träume. Ich habe mich gleich nach dem Erwachen trotz starken Widerstandes bemüht, sie zu vergessen, denn es waren schreckliche Wahrheiten aufdringlich und überdeutlich in ihnen, so wie sie in dem mattern Tagesleben niemals zum Durchbruch kommen können. Ich will sie nur ganz oberflächlich und kurz erzählen, trotzdem sie sehr verwickelt und voll Details waren, die noch jetzt in mir drohen. Der erste knüpfte an Deine Bemerkung an, dass Ihr direkt aus dem Bureau telegraphieren könnt. Ich konnte also aus meinem Zimmer auch direkt telegraphieren, der Apparat stand sogar neben meinen Bett, wohl ähnlich, wie Du den Tisch zum Bett zu rücken pflegst. Es war ein besonders stacheliger Apparat und ich fürchtete mich, so wie ich mich vor dem Telephonieren fürchte, auch vor diesem Telegraphieren. Aber telegraphieren mußte ich Dir in irgendeiner übergroßen Sorge um Dich und in einem wilden, mich gewiß aus dem Bett aufreißenden Verlangen nach einer augenblicklichen Nachricht von Dir. Glücklicherweise war sofort meine jüngste Schwester da und begann für mich zu telegraphieren. Meine Sorge um Dich macht mich erfinderisch, leider nur im Traum. Der Apparat war derartig konstruiert, dass man nur auf einen Knopf drücken mußte und sofort erschien auf dem Papierbändchen die Antwort aus Berlin. Ich erinnere mich, wie ich starr vor Spannung auf das zuerst sich ganz leer abwickelnde Bändchen sah, trotzdem dies nicht anders zu erwarten war, denn solange man Dich in Berlin nicht zum Apparat geholt hatte, konnte ja keine Antwort kommen. Was war das für eine Freude, als die ersten Schriftzeichen auf dem Bändchen erschienen; ich hätte eigentlich aus dem Bett fallen müssen, als so stark habe ich die Freude in der Erinnerung. Es kam nun ein richtiger Brief, den ich ganz genau lesen konnte, an dessen größten Teil ich mich vielleicht sogar erinnern könnte, wenn ich dazu Lust hätte. So will ich nur sagen, dass ich in dem Brief in lieber, mich beglückender Weise wegen meiner Unruhe ausgescholten wurde. Ich wurde ein "Nimmersatt" genannt und es wurden die Briefe und Karten aufgezählt, die ich in der letzten Zeit bekommen hatte oder die auf dem Wege waren.
Im zweiten Traum warst Du blind. Ein Berliner Blindeninstitut hatte einen gemeinsamen Ausflug in ein Dorf gemacht, in dem ich mit meiner Mutter auf Sommerfrische wohnte. Wir bewohnten ein hölzernes Häuschen, dessen Fenster mir genau in der Erinnerung ist. Dieses Häuschen lag inmitten eines großen, auf einem Abhang gelegenen Gutskomplexes. Vom Häuschen aus links war eine Glasveranda, in welcher der größte Teil der blinden Mädchen untergebracht war. Ich wußte, dass Du unter ihnen seist und hatte den Kopf voll unklarer Pläne, wie ich es anstellen könnte, Dir zu begegnen und mit Dir zu reden. Immer wieder verließ ich unser Häuschen, überschritt die Planke, die vor der Tür über den morastigen Boden gelegt war, und kehrte, ohne Dich gesehen zu haben, unentschlossen immer wieder zurück. Auch meine Mutter ging planlos herum, sie hatte ein sehr einförmiges Kleid, eine Art Nonnentracht, und die Arme an die Brust gelegt, wenn auch nicht gerade gekreuzt. Sie machte Anspruch darauf, von den blinden Mädchen verschiedene Dienstleistungen zu bekommen und bevorzugte in dieser Hinsicht ein Mädchen in schwarzem Kleid mit rundem Gesicht, dessen eine Wange aber derartig tiefgehend vernarbt war, als wäre sie einmal völlig zerfleischt worden. Die Mutter lobte auch mir gegenüber die Klugheit und Bereitwilligkeit dieses Mädchens, ich sah sie auch eigens an und nickte, dachte aber nur daran, dass sie Deine Kollegin sei und wohl wissen werde, wo Du zu finden wärest. Plötzlich hatte alle verhältnismäßige Ruhe ein Ende, vielleicht wurde zum Aufbruch geblasen, jedenfalls sollte das Institut weitermarschieren. Nun war aber auch mein Entschluß gefaßt und ich lief den Abhang hinunter, durch eine kleine eine Mauer durchbrechende Tür, da ich gesehen zu haben glaubte, dass der Abmarsch sich in dieser Richtung vollziehen werde. Unten traf ich allerdings in Reih und Glied aufgestellt eine Anzahl kleiner blinder Jungen mit ihrem Lehrer. Ich ging hinter ihnen auf und ab, denn ich dachte, jetzt werde das ganze Institut herankommen und ich würde mit Leichtigkeit Dich finden und ansprechen können. Ich hielt mich gewiß ein wenig zu lange hier auf, versäumte auch, mich nach der Art des Abmarsches zu erkundigen und vertrödelte die Zeit, indem ich zusah, wie ein blinder Säugling - in dem Institut waren eben Altersstufen vertreten - auf einem steinernen Postament ausgepackt und wieder eingewickelt wurde. Endlich aber schien mir die sonst überall herrschende Stille verdächtig und ich erkundigte mich bei dem Lehrer, warum denn das übrige Institut nicht komme. Nun erfuhr ich zu meinem Schrecken, dass hier nur die kleinen Jungen abmarschieren sollten, während alle andern gerade jetzt durch den andern Ausgang ganz oben auf dem Berg sich entfernen. Zum Trost sagte er mir noch - er rief es mir nach, denn ich lief schon wie toll - dass ich noch rechtzeitig ankommen dürfte, da die Gruppierung der blinden Mädchen natürlich lange Zeit in Anspruch nehme. Ich lief also den jetzt ungemein steilen und sonnigen Weg entlang einer kahlen Mauer hinauf. In der Hand hielt ich plötzlich ein riesiges österreichisches Gesetzbuch, das zu tragen mir sehr beschwerlich war, das mir aber irgendwie dabei behilflich sein sollte, Dich zu finden und richtig mit Dir zu reden. Auf dem Weg aber fiel mir ein, dass Du ja blind seist, dass daher mein Aussehn und äußerliches Benehmen den Eindruck, den ich auf Dich machen werde, glücklicherweise nicht beeinflussen könne. Nach dieser Überlegung hätte ich das Gesetzbuch als eine unnötige Last am liebsten weggeworfen. Endlich kam ich oben an, es war tatsächlich noch Zeit in Hülle und Fülle, das erste Paar hatte das Eingangsportal noch gar nicht verlassen. Ich stellte mich also bereit, sah Dich im Geiste im Gedränge der Mädchen schon herankommen, die Augenlider gesenkt, steif und still.
Da erwachte ich, ganz heiß und darüber verzweifelt, dass Du so weit von mir entfernt bist.


vom 6. zum 7. XII. 12: Vermutlich in der Nacht vom 7. zum 8. Dezember 1912
Roman: "Der Verschollene". Das erste Kapitel, "Der Heizer", erschien im Mai 1913 als Band 3 der von Kurt Wolff herausgegebenen Schriftenreihe "Der jüngste Tag".

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at