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[An Felice Bauer]
[Prag, 6. November 1912; Freitag]

vom 6. zum 7. XII. 12

Liebste, also höre, meine kleine Geschichte ist beendet, nur macht mich der heutige Schluß gar nicht froh, er hätte schon besser sein dürfen, das ist kein Zweifel. Der nächste an solche Trauer sich anschließende Gedanke bleibt freilich immer: Ich habe ja Dich, Liebste, also eine zweite Berechtigung zum Leben, nur bleibt es eine Schande, die Berechtigung zum Leben bloß aus dem Dasein der Geliebten zu holen.
Jetzt erinnere ich mich rechtzeitig noch, dass das aber ein Sonntagsbrief werden soll und dass man die Klagen besser für Montag läßt. Liebste, ich weiß nicht warum, aber Dein Spaziergang die Stadtbahn
[entlang] hat mich maßlos gerührt. Was muß es für ein Hohngelächter in der Höhe geben, wenn man vielleicht zu gleicher Zeit Deine einsamen Spaziergänge mit den meinigen vergleicht und die Blicke von einem zum andern wandern läßt.
Diese Photographie, Liebste, bringt Dich mir wieder ein großes, großes Stück näher. Ich würde es für ein recht altes Bild halten. (Du schreibst nichts zur Erklärung des Bildes und willst mich vielleicht in eine Falle locken; aber Glück und Dankbarkeit macht mich kühn und ich fürchte mich nicht.) Das Ganze sieht übrigens in der Beleuchtung, Gruppierung und Laune der Abgebildeten ganz geheimnisvoll aus und der Schlüssel des Geheimnisses, der vorne auf dem Tisch neben der zu ihm gehörigen Schachtel liegt, macht die Sache um nichts klarer. Du lächelst wehmüthig oder es ist meine Laune, die Dir dieses Lächeln andichtet. Ich darf Dich nicht ordentlich ansehn, sonst bekomme ich den Blick nicht von Dir los. Du trägst eine sonderbar aufgeputzte Bluse. Auf dem linken Unterarm hast Du eine Schnur oder ein Armband. Abgesehen von meinem hier wirklich gar nicht maßgebenden Urteil bist Du auch für andere Beobachter nicht nur wegen Deiner Stellung im Mittelpunkt des Bildes, sondern auch weil Deine Mutter Dich unter dem Arm gefaßt hat oder weil es wenigstens diesen Anschein hat. Das gibt Dir eine besondere Bedeutung. Außerdem hast Du eine ganz andere Blickrichtung als die übrige Familie. Am nächsten steht mir von allen andern Deine Mutter (selbst auf die Gefahr hin, dass Deine Mutter gar nicht auf dem Bilde ist). Das Urteil über sie ist deshalb ein wenig unsicher, weil das meiste und differenzierteste Licht auf ihr Gesicht fällt. Ist es nicht eine große, etwas knochige Frau? In meines Vaters Familie gibt es Frauen, die ihr entfernt ähnlich scheinen. Sie sieht sehr einsichtig aus, ich kehre fast zu meiner ersten Meinung über sie zurück, mit ihr getraute ich mich zu reden. Dein Vater sieht sehr würdig aus, vor dem wäre ich schon unsicherer. Was hat er eigentlich für ein Geschäft? Deinen Bruder kenne ich ja schon von dem Bild aus Binz, ich sehe nichts Neues an ihm. Am Rande stehn wohl Deine Schwestern (das Raten wird dadurch erleichtert, dass Dein Bruder nicht verheiratet ist) die ältere nenne ich die Budapesterin und den lustigen Mann neben Dir Deinen Budapester Schwager. Sie sind die einzigen, die eigentlich lachen, also gehören sie zusammen. Das Mädchen am andern Rande könnte die phlegmatische Schwester sein nach ihrem selbstzufriedenen, etwas schläfrigen Lächeln zu schließen. (Liest ein 20jähriges Mädchen mit Entschiedenheit gar nichts, finde ich nichts Böses daran, halbes Lesen ist ärger.) Und in was für einem Zimmer seid Ihr nun? Ist das Euer gegenwärtiges Wohnzimmer und dies der Tisch, auf dem in einem Deiner Briefe Vater und Bruder 66 spielten? Und wer photographiert Euch? Ist es irgendein Familienfest? Vater und Bruder scheinen dunkel angezogen und haben weiße Krawatten, aber der angebliche Schwager hat eine farbige. Liebste, wie mächtig ist man gegenüber Bildern und wie ohnmächtig in Wirklichkeit! Ich kann mir leicht vorstellen, dass die ganze Familie beiseite tritt und sich entfernt, dass nur Du allein zurückbleibst und ich mich über den großen Tisch zu Dir hinüberlehne, um Deinen Blick zu suchen, zu erhalten und vor Glück zu vergehn. Liebste, Bilder sind schön, Bilder sind nicht zu entbehren, aber eine Qual sind sie auch.
In einer schlimmen Ahnung bin ich eben schauen gegangen, wie spät es ist. ¼ 4! Das ist zu arg. Ich habe aber auch erst nach 12 mit meinen Arbeiten angefangen. Gute Nacht, Liebste. Und mich lieb behalten! Nächste Woche bekommst Du mein kleines Buch. Wie viele Küsse ich dafür wohl bekommen werde? Schöne Beschäftigung für Träume. Liebste, das sei das letzte Wort, Liebste!

Dein Franz

Bloß zur Kontrolle der Post erwähne ich es, heute habe ich nur den Expreßbrief mit der Photographie bekommen.


Buch: Kafkas erste Buchveröffentlichung "Betrachtung" im Verlag Ernst Rowohlt, Leipzig, erschien im Dezember 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at