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[An Felice Bauer]
[Prag, 5. Dezember 1912; Donnerstag]

vom 6. zum 7.XII.12

Weine, Liebste, weine, jetzt ist die Zeit des Weinens da! Der Held meiner kleinen Geschichte ist vor einer Weile gestorben. Wenn es Dich tröstet, so erfahre, dass er genug friedlich und mit allen ausgesöhnt gestorben ist. Die Geschichte selbst ist noch nicht ganz fertig, ich habe keine rechte Lust jetzt mehr für sie und lasse den Schluß bis morgen. Es ist auch schon sehr spät und ich hatte genug zu tun, die gestrige Störung zu überwinden. Schade, dass in manchen Stellen der Geschichte deutlich meine Ermüdungszustände und sonstige Unterbrechungen und nicht dazugehörige Sorgen eingezeichnet sind, sie hätte gewiß reiner gearbeitet werden können, gerade an den süßen Seiten sieht man das. Das ist eben das ewig bohrende Gefühl; ich selbst, ich mit den gestaltenden Kräften, die ich in mir fühle, ganz abgesehen von ihrer Stärke und Ausdauer, hätte bei günstigern Lebensumständen eine reinere, schlagendere, organisiertere Arbeit fertiggebracht, als die, die jetzt vorliegt. Es ist das ein Gefühl, das keine Vernunft ausreden kann, trotzdem natürlich niemand anderer als die Vernunft recht hat, welche sagt, dass man, ebenso wie es keine andern Umstände gibt als die wirklichen, auch mit keinen andern rechnen kann. Wie das aber auch sein mag, morgen hoffe ich die Geschichte zu beenden und übermorgen mich auf den Roman zurückzuwerfen.
Meine arme Liebste, Du willst wissen, wann Deine Briefe ankommen, um Dich danach zu richten? Aber die Post ist ja ganz unberechenbar, gar die österreichische, sie arbeitet vollkommen improvisiert, so wie beiläufig die Juxpost bei Sommerunterhaltungen. Dein erster Expreßbrief kam Montag um 11 Uhr in meine Wohnung, Dein zweiter kam Mittwoch zwischen 9 und 10 ins Bureau, Dein Telegramm kam um ½5 nachmittags in die Wohnung (es wäre besser gewesen, wenn es später gekommen wäre, dann hätte es mich vielleicht rechtzeitig geweckt, so aber hätte ich fast verschlafen und kam erst um 9 Uhr hin) Dein Brief aus der Elektrischen - dieser Brief, den die liebste Felice mir für Mittwoch nachmittag zugedacht hatte - kam erst Donnerstag vormittag in meine Wohnung und ich sah, als ich ihn um 3 Uhr in die Hand bekam, wie sehr wir wieder zusammengehören, denn Du hattest mir das Telegramm zur Begleitung in die Vorlesung mitgeben wollen, ich hatte es auch wirklich schon fast eingesteckt, um es mitzunehmen, überlegte es mir aber doch, da ich es ja nicht bloß in der Tasche behalten, sondern vor mir auf dem Vorlesetisch haben wollte und es zu diesem Zweck doch zu auffällig gewesen wäre, deshalb nahm ich lieber die Ansichtskarte mit.
Ich erzähle von meinem Bureau offenbar riesig deutlich (es steht eben nicht dafür) da Du, Liebste, es so mißverstehst. Nicht 70 Abteilungen haben wir, sondern in der Abteilung, in der ich bin, arbeiten 70 Beamte. Der Chef dieser Abteilung hat 3 Vertreter, einer von diesen, und zwar leider gerade für die wichtigsten oder besser unangenehmsten Sachen bin ich. So ist es, und damit Du es noch besser verstehst, gibt Dir der auf dem Bild so fremde, im Innern aber wie kein anderer Dir ergebene Mensch einen langen, langen Kuß.

Dein Franz


vom 6. zum 7.XII.12: Vermutlich in der Nacht vom 5. zum 6. Dezember 1912.
Störung: Vermutlich der Prager Autorenabend am 4. Dezember 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at