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[An Felice Bauer]
[Prag, 5. Dezember 1912; Donnerstag]

5. XII. 12

Liebste, nur Grüße und Dank für die Beschreibung Deines Zimmers. Nur die Rückwand fehlt noch, da ist wohl noch eine Tür. Hast Du viele Bücher?
Von den Wahlen hätte ich Dir nicht geschrieben? Doch, doch. Wohl in einem der vielen verlorengegangenen Briefe. Jetzt erinnere ich mich z.B., dass ich Dir geklagt habe, dass Deine Briefe erst aus der ungeheueren Wahlpost herausgesucht werden müssen und wie lange das dauert. Es sind die Wahlen in unsern Vorstand, die hübsch viel Arbeiten machen, da alle bei uns versicherten Unternehmer (an 200000) und alle Arbeiter (an 3000000) wählen. Heuer habe ich mich für diese Arbeiten gedrückt und meine Rückstände konnten sich ein wenig unbeachtet aufhäufen. Jetzt aber kracht schon hie und da einer.
Liebste, leugne es nicht, ich scheine Dir auf meinem Bild recht fremd. Du willst es Dir selbst nicht eingestehn, aber Dein Brief zeugt gegen Dich. Wenigstens wenn man ihn mit Verdacht liest, wie ich es diesmal getan habe, ich gestehe es. Was soll ich tun? So sehe ich nun einmal aus. Das Bild ist schlecht, aber ähnlich ist es, ich sehe in Wirklichkeit sogar ärger aus. Es ist 2 Jahre alt, aber mein jungenhaftes Aussehn hat sich kaum verändert, von den Nachtwachen fange ich allerdings an, ein paar widerliche Falten zu bekommen. Wirst Du Dich, Liebste, an dieses Bild gewöhnen können? Und darf Dich der Mensch noch küssen, oder muß er sich ungeküßt unterschreiben? Und bedenke, das Bild ist schließlich noch erträglich, aber bis dann der Mensch selbst vortritt. - Am Ende laufst Du dann vor ihm davon. Bedenke, Du hast ihn ja nur einmal und bei Gaslicht gesehn und ohne damals auf ihn besonders zu achten. Er kommt aber bei Tag fast nicht ins Freie und hat davon geradezu ein Nachtgesicht bekommen. Ich begreife Dich so gut. Aber vielleicht gewöhnst Du Dich doch an ihn, Liebste, denn sieh, auch ich, der Briefschreiber, den Du so gut behandelt hast, hat sich an ihn gewöhnen müssen.
Ich übertreibe im vorigen, Dein Brief ist lieb wie immer, aber die Launen gehn in mir auf und ab und heute ist eben die schlechte oben. Verzeih uns beiden, dem Briefschreiber und dem Photographierten und laß uns durch unsere Zweigestalt auch an Küssen profitieren, Liebste, adieu, ich bin ganz ruhig, sei es auch und behalte mich lieb.

Dein Franz

Heute ist es aber wirklich der letzte zweite Tagesbrief.
Gott, mir droht schon wieder eine Reise.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at