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[An Felice Bauer]
[Prag, 3. Dezember 1912; Dienstag]

3. XII. 12

Der wunderbare, große, übertrieben und unverdient große Brief! Liebste, Du hast mir eine Freude gemacht. Und darin das Bild, das zuerst fremd aussieht, da Du in einer mir ungewohnten Haltung und Umgebung bist, das sich aber, je länger man es anschaut, immer mehr enträtselt, bis es jetzt, da es im Licht der Schreibtischlampe steht, also wie in jenem damaligen Sonnenlicht, das liebste Gesicht in solcher Täuschung zeigt, dass man die Hand am Bootrand küssen möchte und es auch tut. Damals sahst Du wohl besser aus als heute, machtest aber übrigens, vielleicht vor lauter Wohlsein, ein äußerst verdrießliches Gesicht. Was hieltest Du in der Hand? Ein sonderbares Täschchen? Und wer hatte Dir das Laub in den Gürtel gesteckt? Wie vorsichtig und mißtrauisch Du mich ansiehst, als hättest Du eine leichte Vision jenes Plagegeistes, der Dich nach 4 Jahren heimsuchen sollte. Du warst auch sehr ernsthaft angezogen für eine bloße Ausfahrt, ebenso Dein Bruder. Daß Dein Bruder schön ist, hat man mir schon gesagt. Wie lächerlich jung ich neben ihm aussehn müßte und bin doch wahrscheinlich älter als er. Und auf dem Bild ist er gar erst 25 Jahre alt. Du bist wohl sehr stolz auf ihn.
Und nun werden mir gar noch andere Bilder in Aussicht gestellt, Liebste, das Versprechen mußt Du halten. Dem Briefumschlag sieht man es nicht an, reißt den Briefumschlag auf, als wäre es nur ein Brief (manche Briefe kommen geradezu offen an, es liegt das an der Konstruktion des Couverts) aber da ist ein Bild darin gewesen und Du schlüpfst selbst heraus, wie Du einmal in schönern Tagen vor mir aus dem Eisenbahnwaggon kommen wirst. Auch diese Blitzlichtaufnahme, Liebste, gehört schon mir, sei es für Zeit oder für Ewigkeit, wie immer sie auch ausgefallen sein mag. Um Dir jedes Bedenken zu nehmen (nicht, um Dir gar welche Bedenken zu verursachen) schicke ich Dir ein Blitzlichtaufnahme von mir. Sie ist recht widerlich, sie war aber auch nicht für Dich bestimmt, sondern für meine Kontrollsvollmacht für Anstaltszwecke und ist beiläufig 2 - 3 Jahre alt. Ein verdrehtes Gesicht habe ich in Wirklichkeit nicht, den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht, hohe Krägen trage ich längst nicht mehr. Dagegen ist der Anzug schon jener mehrerwähnte einzige (einzige ist natürlich eine Übertreibung, aber keine große) und ich trage ihn heute munter wie damals. Ich habe schon in Berliner Theatern auf vornehmen Plätzen, ganz vorn in den Kammerspielen, mit ihm Aufsehen gemacht und einige Nächte auf den Bänken der Eisenbahnwaggons in ihm durchschlafen oder durchduselt. Er altert mit mir. So schön wie auf dem Bild ist er natürlich nicht mehr. Die Halsbinde ist ein Prachtstück, das ich von einer Pariser Reise mitgebracht habe und nicht einmal von der zweiten, sondern noch von der ersten, deren Jahreszahl ich augenblicklich gar nicht berechnen kann. Ich lasse aber eines für Dich machen, wenn es möglich ist, soviel liegt mir daran, wenigstens als Bild in Deiner Hand zu sein, in Deiner wirklichen Hand, meine ich, denn in Deiner unwirklichen Hand bin ich längst.

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Das war am Abend geschrieben, jetzt ist Nacht, dort wo sie am tiefsten ist. Liebste, habe ich mich nicht, trotzdem gestern kein Brief da war, musterhaft betragen? so sehr im Vertrauen zu Dir verbunden als wärest Du neben mir gewesen und hättest bloß Deinen schweigenden Tag gehabt. Du hast übrigens gewiß solche Trauertage gar nicht, denn trotz des Weinens - Deines einzigen Fehlers, übrigens einer schrecklichen Verlockung, Dich eilends an die Brust zu ziehn - beherrscht Du Dich gewiß unvergleichlich besser als ich. Überlege einmal ordentlich, ob Du einen Menschen leiden könntest, der an manchen Tagen und in der Mehrzahl der Tage förmlich in sich verfällt und nicht von der Stelle zu bringen ist. Solche Tage gab es besonders vor einer Woche etwa häufig, ich weiß nicht, ob Du es an meinen Briefen erkannt hast (vor einer Woche etwa!) sage auf jeden Fall, dass es Dir entgangen ist und dass ich an Einbildungen leide. Aus Deinem Mund, aus dem ich alle Entscheidungen über mich erwarte, wird es mich beruhigen.
Euer Fest war über alle Maßen prächtig. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber die ganze Fabrik kommt mir trotz aller Gegengründe der Vernunft, trotz Deiner nicht anzuzweifelnden Zeugenschaft, trotz aller Einzelheiten, die ich davon weiß, gänzlich, aber gänzlich (das Briefpapier Deines gräßlich unordentlichen Korrespondenten ist eben ausgegangen und alle Papierhändler schlafen) unwirklich vor. Vielleicht liegt es daran, dass ich Dich so fest mit Wünschen und Hoffnungen umgeben habe, die in einen wirklichen Geschäftsbetrieb gar nicht, in einem unwirklichen dagegen ausgezeichnet passen. Darum lasse ich mir auch so gern von Deinem Bureau erzählen, hätte ich die innerste Überzeugung, dass es Dich umgibt und arbeiten läßt, es wäre mir ein Abscheu. Bekomme ich die Ansichten der Bureaulokalitäten? Wenn ich sie bekomme, bekommst Du z.B. einen Jahresbericht unserer Anstalt mit einem Aufsatz von mir über runde Sicherheitshobelmesserwellen! Mit Abbildungen! Oder gar einen Aufsatz über Werkstattversicherung! Oder über Sicherheitsfräsköpfe! Liebste, es stehn Dir noch viele Freuden bevor.
Nun aber gehe ich ins Bett. Ich schlafe nämlich etwas zu wenig in der letzten Zeit, ich gehe auch etwas zu wenig spazieren, ich lese gar nichts, aber befinde mich manchmal nicht übermäßig schlecht. Ich spiele mit den Gedanken an die Weihnachtsferien, an die großen Ferien und an die weitern Jahre. Will die Aussicht dunkler werden, schließe ich die Augen. - dass ich es nicht vergesse, ich werde jetzt in der Regel nur einmal täglich schreiben, man nimmt mir die Nachmittage. Aber man gibt mir Küsse. Da dulde ich alles.

Franz


Jahreszahl: Oktober 1910.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at