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[An Felice Bauer]
[Prag, 30. November 1912; Samstag]
[Tschechischer Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt "Úrazová pojistovna delnická"]

30. XI. 12

Liebste, überall soll Deiner gedacht werden, deshalb schreibe ich Dir hier auf dem Tische meines Chefs, den ich eben vertrete. Was für eine Freude hast Du mir heute mit dem großen Briefe und den 2 Karten gemacht! Die letzteren sind übrigens verrückter Weise wieder später gekommen als der später geschriebene Freitagnachtbrief. Ich w (gerade hat mich der telephonische Anruf des Direktors aufgeschreckt, es ist ihm kaum gelungen.) Ich war also gerade in der Trafik, um die Marke für den Brief zu kaufen, den Du Sonntag bekommst, wenn die Post will (Liebste, es gehn, es gehn Briefe verloren, oder aber ich leide an Verfolgungswahnsinn) da steht gerade unser Briefträger neben mir, obenauf liegt Dein Brief, ich reiße ihn so stark an mich, dass das ganze Briefbündel in Gefahr kommt.
Was für großartige Vorbereitungen Ihr macht! Die Festschrift bekomme ich wohl gleich. Was war das für eine Debatte über das russische Balett, kommt die im Festspiel vor? Beunruhige Dich bitte nicht über mich, es geht mir so beiläufig gut, zumindest weine ich nicht, werfe mich nicht über die Chaiselongue und habe nur Sorge, dass es Dir geschieht. Du, es gibt so schöne Sanatorien in der großen Welt. Darüber muß ich Dir nächstens schreiben. Erkläre mir, warum haben Deine Mitspieler Mitleid mit Dir und entschuldigen Dich mit Deiner Nervosität; ständig nervös bist Du doch nicht und von den Festvorbereitungen müßten doch alle nervös sein und Nervöse kennen kein Mitleid. Sei ruhig, es ist eine feine Idee von Dir, dass jeder von uns aus Rücksicht auf den andern ruhig sein soll; so betreibe ich es unbewußt schon lange, es gelingt mir aber so selten, an Deiner Unruhe merke ich, wie selten es mir gelingt. Ich vertraue Dir völlig, mißverstehe mich nicht, wie könnte ich jemanden lieben und weiterleben, ohne ihm zu vertrauen, aber auf meiner Seite ist das Böse, nur auf meiner Seite, und da greift es eben über und erschreckt Dich. Manchmal denke ich, wenn wir beide dagegen zusammenhalten, könnte es nicht standhalten; dann wieder glaube ich es besser zu wissen.
Nun muß ich aber wirklich aufhören, ein Chef darf nicht Briefe an die Liebste schreiben. In unserer Abteilung sind an 70 Beamte, wenn sich alle an dem Chef ein Beispiel nehmen würden, wie es eigentlich sein soll, ergäbe das schreckliche Zustände.
Was macht übrigens das kleine Fräulein Brühl? Hat ihr meine Karte Kopfzerbrechen verursacht? Oder hat sie sie am Ende gar nicht bekommen, was mir nach meiner alten Grundmeinung das Wahrscheinlichste scheint.
In der Beilage schicke ich Dir eine Einladung zu einer Vorlesung. Ich werde Deine kleine Geschichte vorlesen. Du wirst dort sein, auch wenn Du in Berlin bleibst, glaube mir. Es wird mir ein sonderbares Gefühl sein, mit Deiner Geschichte, also gewissermaßen mit Dir vor einer Gesellschaft zu erscheinen. Die Geschichte ist traurig und peinlich, man wird mein frohes Gesicht während der Vorlesung nicht verstehn.

Franz

[Auf einem beigelegten Blatt]

Liebste! Der Teufel soll mich holen! Ich habe in meiner nächtlichen Zerstreutheit, glaube ich, den für Deine Wohnung bestimmten Sonntagsbrief in Dein Bureau adressiert. Expreß wage ich diesen Brief in die Wohnung nicht zu adressieren. Es ist nicht viel Hoffnung, dass er noch Sonntag kommt. Jedenfalls hat die Post eine schöne Gelegenheit sich auszuzeichnen. Verzeihung!

Franz


Festspiel: Die Amateuraufführung aus Anlaß des Stiftungsfestes der Firma Carl Lindström.
Vorlesung: Einladung der Herder-Vereinigung zu Prag (4. Dezember 1912).
Geschichte: Das Urteil.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at