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[An Felice Bauer]
[Prag, 30. November 1912; Samstag]

30. XI. 12

Müde, müde bist Du wohl, meine Felice, wenn Du diesen Brief in die Hand nimmst, und ich muß mich anstrengen deutlich zu schreiben, damit die verschlafenen Augen nicht zu viel Mühe haben. Willst Du nicht lieber den Brief vorläufig ungelesen lassen und Dich zurücklehnen und ein paar Stunden weiterschlafen nach dem Lärm und Hetzen dieser Woche? Der Brief wird Dir nicht fortfliegen sondern ruhig auf der Bettdecke warten bis Du erwachst.
Ich kann Dir nicht genau sagen, wie spät es ist während ich diesen Brief schreibe, denn die Uhr liegt auf einem Sessel paar Schritte von mir entfernt, aber ich wage nicht hinzugehn und nachzuschaun, es muß schon nahe am Morgen sein. Ich bin aber auch erst nach Mitternacht zu meinem Schreibtisch gekommen. Im Frühjahr und Sommer wird man - aus Erfahrung weiß ich es noch nicht, denn meine Nachtwachen stammen erst aus jüngster Zeit - nicht so ungestört die Stunden durchwachen können, denn die Dämmerung wird einen schon ins Bett jagen, aber jetzt in diesen langen unveränderlichen Nächten vergißt die Welt an einen, selbst wenn man nicht an sie vergißt.
Nun habe ich überdies so elend gearbeitet, dass ich überhaupt keinen Schlaf verdiene und eigentlich verurteilt bleiben sollte, den Rest der Nacht mit dem Hinausschauen aus dem Fenster zu verbringen. Begreifst Du es, Liebste: schlecht schreiben und doch schreiben müssen, wenn man sich nicht vollständiger Verzweiflung überlassen will. So schrecklich das Glück des guten Schreibens abbüßen müssen! Eigentlich nicht wahrhaft unglücklich sein, nicht jenen frischen Stachel des Unglücks zu fühlen, sondern auf die Heftseiten hinuntersehn, die sich endlos mit Dingen füllen, die man haßt, die einem Ekel oder wenigstens eine trübe Gleichgültigkeit verursachen, und die man doch niederschreiben muß, um zu leben. Pfui Teufel! Könnte ich doch die Seiten, die ich seit 4 Tagen geschrieben habe, so vernichten, als wären sie niemals da gewesen.
Aber sind das Morgengrüße? Empfängt man so die erwachende Geliebte an einem schönen Sonntag? Nun, man empfängt sie so, wie man eben beschaffen ist, Du willst es gewiß nicht anders. Ich aber bin zufrieden, wenn ich mit meinen Klagen Deinen Schlaf nicht ganz vertrieben habe und Du ihn wiederfindest. Und zum Abschied sage ich Dir noch, dass alles gewiß und ganz gewiß besser werden wird und dass Du gar keine Sorgen haben mußt. Man kann mich doch nicht ganz aus dem Schreiben hinauswerfen, wenn ich schon einigemal dachte, in seiner Mitte, in seiner besten Wärme zu sitzen.
Aber jetzt kein Wort mehr, nur noch Küsse und besonders viel aus tausend Gründen, weil Sonntag ist, weil das Fest vorüber ist, weil schönes Wetter ist, oder weil vielleicht schlechtes Wetter ist, weil ich schlecht schreibe und weil ich hoffentlich besser schreiben werde und weil ich so wenig von Dir weiß und nur durch Küsse etwas Ernstliches sich erfahren läßt und weil Du schließlich ganz verschlafen bist und Dich gar nicht wehren kannst.
Gute Nacht! Schönen Sonntag!

Dein Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at