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[An Felice Bauer]
[Prag, 29. November 1912; Freitag]
[Tschechischer Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt "Úrazová pojistovna delnická"]

29. XI. 12

Ich habe, Liebste, heute nur den Mittwochnachtbrief bekommen, weiß also von Dir bloß bis zu dem Augenblick am Donnerstag Morgen, an dem Du den Brief eingeworfen hast. Und seitdem ist allerdings eine lange Zeit vergangen. Aber ich bin gar nicht unruhig, weil Du es so verlangst, aber diese Ruhe dauert allerdings nur solange, als auch Deine Ruhe erhalten bleibt. Du mußt jetzt mit diesen Proben in einem scheußlichen Wirrwarr leben, ich werde mich Deinetwegen sehr freuen, bis alles vorüber ist. Wirst Du auch auftreten? Und als was? Du vernachlässigst mich übrigens, Liebste: wenn ich einmal als Humor aufgetreten wäre, hätte ich Dir längst meine Rolle geschickt. Hätte ich Deine Rolle, ich würde sie trotz meines schlechten Gedächtnisses auswendiglernen (denn andere Kräfte als bloß jene des Gedächtnisses kämen mir dabei zur Hilfe) und nachts in meinem Zimmer mächtig deklamieren. Das sind aber dunkle, unglückliche Träume, die ich Dir verursache, Liebste, und sie geben mir zu denken. Geht meine Bestimmung, Dich zu quälen, über das Wachsein hinaus bis in den Schlaf?
Deine erste Photographie ist mir unendlich lieb, denn dieses kleine Mädchen existiert nicht mehr und die Photographie ist diesmal alles. Das andere Bild aber ist nur die Darstellung einer lieben Gegenwart und das Verlangen trägt den Blick über das beunruhigende Bildchen weg. "Geistesgenie" ist wie ein Wort aus einem Traum, sinnlos und innerlich wahr, ich war gar nicht erstaunt, auf der nächsten Seite die Traumgeschichte zu finden. Warum ist übrigens die erste Photographie durchlöchert?
Nun muß ich aber aufhören, Liebste, und schicke diesen halben Brief weg, denn ich weiß nicht, ob ich heute vor Nacht noch schreiben werde.
Wieder gab es eine Übereinstimmung. In dem letzten Brief erinnerst Du mich an meine Photographie und im gleichen Augenblick, als ich diesen Brief bekam, wurde Dir wahrscheinlich mein gestriger Brief mit dem Bildchen überreicht. Aber es gibt allerdings auch Unerfülltes. In beiden Briefen wollen wir zusammenkommen, aber es geschieht nicht.
Das gestrige Gedichtchen des Frl. Brühl ist ja wieder eine ausgezeichnete Leistung, viel schöner als das andere sonst sicher auch anerkennenswerte Gedicht des Herrn. Was hatte sie denn angestellt, dass sie ausgezankt werden mußte. Schau doch bei dieser Stelle zu dem Mäderl hin (ich nehme an, dass sie in Deinem Zimmer sitzt) und grüß sie stumm von mir.
Ist es ein zufälliges Zusammentreffen, dass die Parlographen beiläufig seit der Zeit Deines Eintrittes in die Fa erzeugt werden oder kamst Du gleich in diese Abteilung von ihrer Gründung an? Frage ich Dich nicht überhaupt zu viel. Es muß schon ein Berg von Fragen auf Dir liegen. Mußt Dich mit dem Antworten nicht beeilen. Ich werde nie zu fragen aufhören. Adieu für ein Weilchen. Eine ganz besonders feine Schrift heute, nicht?

Dein Franz


Fa: Felice Bauer war seit August 1909 Stenotypistin bei der Firma Carl Lindström A.G. (Berlin). Seit 1912 hatte sie eine leitende Stellung in der Parlographenabteilung der Firma.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at