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[An Felice Bauer]
[Prag, 28. November 1912; Donnerstag]

28. XI. 12

Liebste Felice, diese Post narrt uns, gestern bekam ich Deinen Dienstagbrief und klagte über den verlorenen Montagnachtbrief, da kommt er heute Donnerstag früh. Innerhalb dieser präcisen Postorganisation scheint irgendwo ein teuflischer Beamter zu sitzen, der mit unsern Briefen spielt und sie nur nach seiner Laune abgehn läßt, wenn er sie aber alle auch nur abgehn ließe! Außerdem bekam ich den Dienstagnachtbrief, also eine Nachtpost ganz und gar, eigentlich also ein (über alle Maßen wohltuendes) Hohngelächter auf meine Bitte, nachts nicht zu schreiben. Tue es nicht wieder, bitte, Felice, wenn es mich auch glücklich macht, tu es nicht, tu es wenigstens solange nicht, bis Deine Nerven ruhig sind. Wie ist es eigentlich mit dem Weinen? Wie kommt es über Dich? Ohne Grund? Du sitzt bei Deinem Tisch und mußt plötzlich weinen? Ja, Liebste, aber dann gehörst Du doch ins Bett und nicht in die Proben. Mich erschreckt Weinen ganz besonders. Ich kann nicht weinen. Weinen anderer kommt mir wie eine unbegreifliche, fremde Naturerscheinung vor. Ich habe im Laufe vieler Jahre nur vor zwei, drei Monaten einmal geweint, da hat es mich allerdings in meinem Lehnsessel geschüttelt, zweimal kurz hintereinander, ich fürchtete, mit meinem nicht zu bändigenden Schluchzen die Eltern nebenan zu wecken, es war in der Nacht und die Ursache war eine Stelle meines Romans. Aber Dein Weinen, Liebste, ist bedenklich, weinst Du überhaupt so leicht? Seit jeher? Habe ich eine Schuld daran? Aber gewiß habe ich sie. Sag nur, hat Dich schon einmal ein Mensch, der Dir nur das Beste zu verdanken hatte, grundlos (ohne dass von Deiner Seite ein Grund wäre) so geplagt wie ich? Du mußt nicht antworten, ich weiß es, aber aus Mutwillen ist es nicht geschehn, dass weißt Du doch auch, Felice, oder fühlst es. Aber dieses Weinen verfolgt mich. Es kann aus keiner bloß allgemeinen Unruhe kommen, Du bist nicht verzärtelt, es muß einen besonderen, ganz genau zu beschreibenden Grund haben. Nenn mir ihn, ich bitte Dich, Du weißt vielleicht noch gar nicht, welche Gewalt ein Wort von Dir über mich hat, nütze sie bis zum letzten aus, wenn die Unruhe und das Weinen zu mir eine Beziehung hat. In Deiner Antwort auf diesen Brief mußt Du das ganz deutlich sagen. Vielleicht ist der Grund wirklich nur unser allzu häufiges Schreiben. Ich lege einen Brief bei, den ich Dir an jenem Telegrammsonntag zu schreiben anfing, den ich aber damals in dem Jammer nach der leeren zweiten Post nicht mehr zu beendigen wagte. Lies ihn als ein altes Dokument durch. Ich meine nicht mehr genau dasselbe, was darin steht, aber Dein Weinen hat mich daran erinnert.
Ich schreibe in großer Eile, ich hätte Dir noch vieles zu sagen aber man nimmt mir meinen heutigen Nachmittag und wahrscheinlich noch einige in der nächsten Zeit. Darf ich die schönen nassen Augen küssen?

Franz

[Der beigelegte, nicht beendete Brief vom 18. November 1912]

Liebste, ich fange heute meine Bureauarbeit mit diesem Brief an, aber gibt es auch wirklich für uns beide augenblicklich nichts Wichtigeres als das Folgende. Bitte antworte mir darauf sofort, hoffentlich bist Du Kluge meiner Meinung, denn wärest Du es nicht, ich könnte leider Deiner Meinung nicht widerstehn. Jedenfalls bedenke, was Du erträgst, ertrage ich noch lange nicht und ertrage ich etwas nicht, reiße ich Dich doch mit der Unwiderstehlichkeit der Schwäche mit in meinen Kreis, Du hast es ja letzte Woche gesehn. Also höre, es ist nur Angst und Sorge, die mich solche Vorbereitungen machen läßt: Das zweimalige tägliche Schreiben, mit dem ich in den letzten Tagen begonnen habe, ist ein süßer Irrsinn, sonst nichts. (Jetzt war die erste Post da und kein Brief von Dir, um Himmelswillen, solltest Du noch immer krank sein?) Es darf nicht so fortgehn. Wir peitschen einander mit diesen häufigen Briefen. Gegenwart wird ja dadurch nicht erzeugt, aber ein Zwitter zwischen Gegenwart und Entfernung, der unerträglich ist. Liebste, wir dürfen uns nicht wieder in solche Zustände treiben wie letzthin, das darf um keinen Preis geschehn, schon Deinetwillen nicht. Und doch sehe ich bei dieser Art des Briefeschreibens schon wieder jene Stelle in einem Deiner künftigen Briefe, in der Du mir wegen eines meiner Briefe einen schwachen und zarten Vorwurf machst, der mich aber hinwirft vor Sorge und Verzweiflung. So arg wie letzthin kann es ja zwischen uns nicht mehr werden, aber noch immer arg genug. Schonen wir einander für bessere Zeiten, wenn Gott sie uns vielleicht doch einmal geben sollte, was ich freilich heute gar nicht absehn kann. Binden wir uns durch Liebe, nicht durch Verzweiflung aneinander. Und darum bitte ich Dich, lassen wir von diesen häufigen Briefen, die nichts anderes bewirken als eine Täuschung, die den Kopf zittern macht. Sie sind mir unentbehrlich und doch bitte ich Dich darum. Wenn Du zustimmst, werde ich mich an das seltenere Schreiben gewöhnen, sonst natürlich nicht, denn es ist ein Gift, das in der Herzgrube sitzt. Mache einen Vorschlag, wie wir es halten sollen, Dir folge ich, mir nicht. Merke, es kommt nicht darauf an zu schreiben, wenn man das Verlangen dazu hat, das ist keine Lösung im guten Sinn, das ist nur ein weiteres Peitschen, denn das Verlangen zu schreiben und Deine Briefe zu lesen habe ich jeden Augenblick, den Gott mir gibt. Vorläufig, denke ich, würde die Beschränkung

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28.XI.12

Wie alt ich hier bin, weiß ich gar nicht. Damals gehörte ich wohl noch vollständig mir an und es scheint mir sehr behaglich gewesen zu sein. Als Erstgeborener bin ich viel photographiert worden und es gibt also eine große Reihenfolge von Verwandlungen. Von jetzt an wird es in jedem Bild ärger, Du wirst es ja sehn. Gleich im nächsten Bild trete ich schon als Affe meiner Eltern auf.

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Ich habe vor mir schon für Dich die "Höhe des Gefühls" von Max vorbereitet. Schön in grünes wenn auch nicht ganz reines Leder (gibt es ganz reines Leder?) gebunden. Ich könnte es Dir schon schicken (es ist eben erschienen, es ist Maxens neuestes Buch) aber ich will es vorher zu Brods hinauftragen, damit Max etwas Freundliches hineinschreibt. Dann bekommst Du es gleich.

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Von Baum hast Du also noch nichts gelesen? Da muß ich Dir aber bald etwas schicken. Er ist völlig blind seit seinem 7ten Jahr, er ist jetzt beiläufig so alt wie ich, verheiratet und hat einen prachtvollen Jungen. Baum hat doch - es ist gar nicht lange her - in Berlin eine Vorlesung gehabt und in Berliner Zeitungen war viel über ihn zu lesen.


"Höhe des Gefühls": Max Brod: Die Höhe des Gefühls, Leipzig 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at