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[An Felice Bauer]
[Prag, 26. November 1912; Dienstag]

26. XI. 12

Felice, ich kündige es an, es kommt einer jener Briefe, von denen ich letzthin einmal geschrieben habe, dass Du sie beim zweiten oder dritten Satz zerreißen sollst. Jetzt ist der Augenblick, Felice, zerreiße ihn, aber schließlich ist es auch noch mein Augenblick, ihn nicht zu schreiben, aber leider wirst Du ihn ebenso sicher lesen, wie ich ihn schreiben werde.
Ich bin gerade von der Reise gekommen, war natürlich zuerst im Bureau und bekam dort Deinen lieben Brief von Sonntag nacht. Ich las ihn in der Loge des Portiers, dessen kleine Frau, während ich las, zu mir aufsah. Dein Brief ist lieb und gut und wahr. (Falsch ist nur mein Alter auf der Photographie angenommen, ich war gerade 1 Jahr alt, wie ich jetzt erfahren habe.) Du strebst danach, mich an Dir teilnehmen zu lassen, ach Gott, wenn ich aber jeden Augenblick Deines Lebens haben will. Trotzdem, Du tust das Menschen nur mögliche, und schon wegen Deiner Güte müßte ich Dich lieben, wenn ich Dich nicht um Dein ganzes teueres Wesen liebte. Warum gab ich mich also mit dem Brief nicht zufrieden und suchte den Tisch des Portiers nach einem weitern Briefe ab? Freilich schriebst Du, dass Du mir Montag schreiben wirst und Dein Montagbrief war allerdings nicht da. Aber hattest Du mir nicht schon einige Male versprochen, dass Du treu zu mir hältst, hatte ich nicht selbst letzthin geschrieben, dass ich ganz ruhig bleiben werde, auch wenn gar kein Brief im Bureau liegt, und nun hatte ich doch immerhin Deinen Sonntagsbrief, und hattest Du nicht endlich Montag abend Probe, konnte also Dein Brief nicht sehr leicht ein wenig zu spät eingeworfen worden sein? Jedenfalls, in dem Ausbleiben des Montagsbriefes allein war nicht der geringste Grund zur Aufregung. Und warum lief ich doch erschrocken nachhause, gleichzeitig überzeugt, dort den Montagsbrief zu finden und gleichzeitig schon hoffnungslos über die sicher zu erwartende Enttäuschung. Warum das, Liebste? Sieht es nicht aus wie ein Mangel meiner Liebe zu Dir? Denn wenn sich gerade jetzt auch Sorge um Deine Gesundheit mit in meine Unruhe mischt, so ist doch die Sorge um Deine Liebe viel größer. Und immer wieder unterlaufen mir die kläglichen Wendungen wie: dass Du mich noch ein Weilchen dulden sollst, dass ich ein paar Deiner Gedanken bekommen soll u.s.w. und wenn einmal ein Brief nicht kommt, dann ist mir Telegraphieren ein fürchterlich langsames Fragen. So entsetzt wie damals als Du in meinem Brief einen fremden Ton fandest, war ich wohl bisher nur einmal, aber andere kleine Bemerkungen erschrecken mich schon genug. Ich erschrecke, wenn ich lese, dass Dich Deine Mutter vor Enttäuschungen bewahren will, wenn ich von dem Breslauer Bekannten lese, nach dem zu fragen ich mich schon wochenlang zurückhalte, ich erschrecke, wenn ich höre, dass Du mich liebst, und wenn ich es nicht hören sollte, wollte ich sterben. Du hast übrigens einmal etwas Ähnliches geschrieben, ich konnte nicht begreifen, wie Du zu dem wahren Urteil kamst. Daß Du es richtig fühltest, hätte mich nicht gewundert, denn Dein Gefühl irrt nicht, dass weiß ich gut.
Nun alle diese Widersprüche haben einen einfachen und nahen Grund, ich wiederhole es, denn es vergißt sich auch für mich so leicht, es ist mein Gesundheitszustand, nichts sonst und nichts weniger. Mehr kann ich nicht darüber schreiben, aber das ist es, was mir die Sicherheit Dir gegenüber nimmt, mich hin- und herwirft und Dich dann mitreißt. Deshalb vor allen Dingen und nicht einmal so sehr aus Liebe zu Dir brauche ich Deine Briefe und verzehre sie förmlich, deshalb glaube ich Deine guten Worten nicht genug, deshalb winde ich mich mit diesen traurigen Bitten vor Dir, nur deshalb. Und da muß natürlich die Macht des besten Wesens versagen. Ich werde niemals die Kraft haben, Dich zu entbehren, fühle ich, aber dieses, was ich an anderen für Tugend hielte, wird meine größte Sünde sein. -
Es war eine häßliche Reise, Liebste. Der gestrige versäumte Abend machte mich ganz trübsinnig. Es gab wohl keinen Augenblick während der Reise, an dem ich nicht zumindest ein wenig unglücklich gewesen bin. Sogar dort im Gebirge war alles naß, wenn auch in der Nacht Schneefall war, die Heizung in meinem Hotelzimmer war nicht abzustellen, ich hatte das Fenster die ganze Nacht vollständig geöffnet, der Schnee flog mir ins Gesicht während ich schlief. Gleich am Beginn der Fahrt saß ich gegenüber einer widerlichen Frau und war unruhig vor unterdrückter Lust, ihr die Faust in den Mund zu stoßen, wenn sie gähnte. Dein Bild wurde während der ganzen Reise hie und da zum Troste angesehn, Dein Bild lag auch in der Nacht zum Troste auf dem Sessel neben meinem Bett. Man soll um keinen Preis wegfahren und den Gehorsam im Bureau lieber verweigern, wenn man zuhause eine Arbeit hat, die alle Kräfte braucht. Diese ewige Sorge, die ich auch jetzt übrigens noch habe, dass die Reise meiner kleinen Geschichte schaden wird, dass ich nichts mehr werde schreiben können u.s.w. Und mit diesen Gedanken in ein elendes Wetter hinausschauen zu müssen, durch Kot laufen, im Kot steckenbleiben, um 5 Uhr aufstehn! Um mich an Kratzau zu rächen, kaufte ich dort in der Papierhandlung das einzige gute Buch, das Kratzau augenblicklich besaß. Eine Novelle von Balzac. In der Einleitung steht übrigens, dass Balzac eine besondere Zeiteinteilung jahrelang befolgte, die mir sehr vernünftig scheint. Er ging um 6 Uhr abends schlafen, stand um 12 Uhr nachts auf und arbeitete dann die übrigens 18 Stunden. Unrecht tat er nur, dass er so wahnsinnig viel Kaffee getrunken hat und damit sein Herz ruinierte. - Aber auf so einer Reise ist auch gar nichts gut. Die Balzac'sche Novelle gefiel mir nicht. Im Eisenbahnblatt las ich sogar als angeblichen Ausspruch Goethes die unsinnige Bemerkung, Prag sei "der Mauerkrone der Erde kostbarster Stein". Das Schönste auf der Reise war das Aussteigen in Prag, wie sich überhaupt mein Zustand gegen Prag zu besserte. Als ich aussteigen wollte, zupfte mich ein kleines Kind am Kragen, ich drehte mich um und sah hinter mir eine junge Frau, die ihr Kind auf dem Arm trug. Wieder erinnerte sie mich sehr an Dich, wenigstens im Augenblick des ersten Ansehns und wieder nicht etwa im Gesicht oder sonst irgendeiner Einzelheit, auf die man hätte zeigen können, sondern nur im allgemeinen und darum besonders unweigerlich. Vielleicht aber habe ich den Schein Deines Wesens dauernd vor meinen Augen. Niemals hat dieser jungen Frau jemand mit größerer Sorgfalt aus dem Wagen geholfen als diesmal ich. Man mußte ihr übrigens helfen, da sie ja das Kind vor sich her trug und die Stufen nicht sehen konnte.
Natürlich will ich von Deiner frühern Reise hören und möglichst viel! Es schien mir ja damals schon genug sonderbar, zur Erholung eine derartige Reise zu machen, auf der Du doch gar keinen Landaufenthalt hattest und andererseits auch nicht in besonders interessante oder fremde Städte kamst. Und wenn Verwandte wollen, dass man sie besuche, dann mögen sie vorher an die Riviera fahren und einen dorthin einladen. Im übrigen habe ich Dich sogar, allerdings sehr unaufdringlich, auf jener Reise ein wenig verfolgt. Ich habe in Breslau auch einen guten Bekannten (es ist nicht jener Fromme, von dem ich einmal schrieb, der ist auf dem Lande, ist Geometer, seine Adresse müßte ich erst aus der Bibel heraussuchen, die er mir zum Andenken geschenkt hat); diese gute Bekanntschaft nun besteht wegen meiner Schreibfaulheit im allgemeinen nur stillschweigend fort. Zu jener Zeit aber, als ich annehmen konnte, dass Du in Breslau seiest, schrieb ich ihm plötzlich nach monatelanger Pause, damit ich wenigstens mit einem Briefe an dem Breslau beteiligt wäre, in dem Du gerade lebtest. Ausdrücklich sagte ich mir das damals nicht, aber es war nichts anderes und zu dem Brief lag keine große Nötigung oder vielmehr gar keine vor.
Führst Du eigentlich ein Tagebuch? Oder hast Du es einmal geführt? Und im Zusammenhang damit die Frage: Warum schreibst Du gar nichts von Deiner Freundin, die Du doch eine so gute Freundin nanntest.
Leb wohl, Liebste. Die Drohung, die, so wie es auf den ersten Seiten geschrieben ist, über uns steht, werden wir wohl am besten bis zu der Zeit ungestört lassen, bis wir das erste wirkliche, nicht nur geschriebene, Wort einander werden sagen können. Ist es nicht auch Deine Meinung?
Ich bitte Dich, den heutigen Brief nichts als Rückfall anzusehn, es ist doch die neue Zeit, nur ein wenig durch die Störung meines Schreibens trübe gemacht.

Deine Hand, Felice!       Franz

Ist es so, dass sich unsere Mütter gleichzeitig um uns zu bekümmern anfangen? Sagt Deine Mutter Gutes über mich oder vielleicht nur Mittelmäßiges? Und warum erinnerte sie sich gerade an mich, als vom Breslauer Bekannten gesprochen wurde? Beantworte mir bitte alle Fragen!

[Auf einem beigelegten Blatt]

Ich darf nicht vergessen, wie mein eigentlicher Auftrag für diese Reise erledigt wurde, denn auch das ist bezeichnend für den feindseligen Charakter dieser Reise. Ich hatte nämlich Erfolg, vielmehr meine Anstalt hatte ihn. Denn während ich geglaubt hatte, nicht mehr als 300 K zu bringen, brachte ich an 4500 K also um etwa 4000 K mehr. "Du hättest Dich gegen den Erfolg wehren sollen", sagte ich mir auf der Rückreise beim Anblick der Krähen über den beschneiten Feldern.


Bekannten: Dr. Friedrich Schiller, Magistratsbeamter in Breslau.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at