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[An Felice Bauer]
[Prag, 25. November 1912; Montag]

Knapp vor der Abreise 24. XI. 12

Liebste! Wie es einen hin und her wirft, wenn man für etwas zu sorgen hat. Es gab schon Tage, wo ich Deine Briefe ruhig erwartete, ruhig in die Hand nahm, einmal las, einsteckte, dann wieder las und wieder einsteckte, aber alles ruhig. Dann aber sind wieder Tage, und ein solcher war heute, wo ich schon vor unerträglicher Erwartung zittere, dass Dein Brief kommt, wo ich ihn nehme wie etwas Lebendiges und gar nicht aus der Hand geben kann.
Liebste, hast Du schon bemerkt, was für unglaubliche Übereinstimmungen es zwischen unsern Briefen gibt, wie einer etwas verlangt, was der nächste am andern Morgen schon bringt, wie Du z.B. letzthin einmal zu hören verlangtest, dass ich Dich liebe und wie ich gezwungen war, in dem Briefe, der sich in der Nacht mit Deinem Briefe auf der Berliner Strecke kreuzte, Dir die Antwort hinzuschreiben, die allerdings schon vielleicht in den Anfangsworten meines ersten Briefes oder gar schon in jenem ersten gleichgültigen Blicke stand, mit dem ich Dich an unserem Abend ansah. Solche Übereinstimmungen hat es aber schon so viele gegeben, dass ich den Überblick darüber verloren habe. Die schönste aber ist heute eingetroffen.
Wie ich Dir gestern schrieb, fahre ich heute abend weg, allein, in der Nacht, ins Gebirge und da schickst Du mir, ohne dass Du es ausdrücklich wüßtest, die liebe kleine Begleiterin. Was für ein liebes kleines Mädchen ist das! Die schmalen Schultern! So schwach und leicht zu fassen ist sie! Bescheiden ist sie, aber ruhig. Damals hat sie noch niemand geplagt und zum Weinen gebracht und das Herz schlägt wie es soll. Weißt Du, dass man leicht Tränen in die Augen bekommt, wenn man das Bild länger ansieht. Gelegentlich soll ich das Bild zurückschicken? Gut, das wird geschehn. Vorläufig aber wird es in dieser vermaledeiten Brusttasche eine kleine, unbehagliche Reise in Eisenbahnen und durch Hotelzimmer machen, trotzdem das Mädchen, wie es behauptet, ohne es bisher erklärt zu haben, sich in Hotelzimmern zu ängstigen pflegt. Ja, das Uhrschnürchen sieht man, die Brosche ist hübsch, das Haar so gewellt und fast zu ernsthaft frisiert. Und trotz allem bist Du so leicht wiederzuerkennen, mit einem von diesem Bild gar nicht so entfernten Gesichtsausdruck bist Du damals am Tisch gesessen in einem Augenblick, den ich vor allen andern genau im Gedächtnis habe. Du hieltest eine der Thaliaphotographien in der Hand, sahst zuerst mich an, der irgendeine dumme Bemerkung machte, und ließest den Blick in einem Viertelkreis den Tisch umwandern und machtest erst wieder beim Otto Brod Halt, der erst zu der Photographie die richtige Erklärung gab. Diese langsame Kopfwendung und den hiebei natürlich verschiedenartigen Anblick Deines Gesichtes habe ich unvergänglich behalten. Und nun kommt das kleine Mädchen, für das ich natürlich ein ganz Fremder bin und bestätigt mir die Wahrheit der lieben Erinnerung.
Wieder fällt mir eine Übereinstimmung ein. Gestern bat ich Dich um Drucksorten, heute versprichst Du sie mir. Aber dieses Herzklopfen, Liebste! Wie kann es wahr sein, dass ich einen Anteil an Deinem Herzen habe, wenn es so klopft, während ich es ruhig haben will?

Dein Franz

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at