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[An Felice Bauer]
[Prag, 25. November 1912; Montag]

25. XI. 12       Sonntag nachts

Nun muß ich heute, Liebste, meine kleine Geschichte, an der ich heute gar nicht soviel wie gestern gearbeitet habe, weglegen und sie wegen dieser verdammten Kratzauer Reise einen oder gar zwei Tage ruhen lassen. Es tut mir so leid, wenn es auch hoffentlich keine allzuschlimmen Folgen für die Geschichte haben wird, für die ich doch noch 3-4 Abende nötig habe. Mit den nicht allzu schlimmen Folgen meine ich, dass die Geschichte schon genug durch meine Arbeitsweise leider geschädigt ist. Eine solche Geschichte müßte man höchstens mit einer Unterbrechung in zweimal 10 Stunden niederschreiben, dann hätte sie ihren natürlichen Zug und Sturm, den sie vorigen Sonntag in meinem Kopfe hatte. Aber über zweimal 10 Stunden verfüge ich nicht. So muß man bloß das Bestmögliche zu machen suchen, da das Beste einem versagt ist. Aber schade, dass ich sie Dir nicht vorlesen kann, schade, schade, z.B. an jedem Sonntag vormittag. Nachmittag nicht, da habe ich keine Zeit, da muß ich Dir Briefe schreiben. Heute schrieb ich wirklich bis ¼7 abends, legte mich dann ins Bett, trotzdem ich eigentlich die Briefe zuerst hätte einwerfen sollen, aber ich fürchtete mich, dann zu spät ins Bett zu kommen und nicht mehr schlafen zu können, denn ist einmal die Abendgesellschaft nebenan beisammen, dann gibt es vor lauter Kartenspiel (das einzige vielleicht, wozu ich mich selbst um meines Vaters willen nur äußerst selten habe zwingen können) keine Ruhe mehr für mich. Diese Sorge war aber heute unnötig, denn, was ich nicht wußte, meine Eltern und die jüngste Schwester waren abends bei meiner verheirateten Schwester und die mittlere Schwester war mit ihrem Bräutigam bei den künftigen Schwiegereltern auf dem Lande zu Besuch. Nun schlief ich aber schlecht, offenbar zur Strafe dafür, dass ich die Briefe doch nicht vorher eingeworfen hatte, wurde aber, da niemand in der Wohnung war außer dem Dienstmädchen, sie ist 17jährig, aber still wie ein Schatten, von niemandem geweckt, lag also im Halbschlaf da und hatte infolge der Grabeskälte meines Zimmers nicht einmal Energie genug, die Hand nach der Uhr auszustrecken. Als ich es endlich doch tat, war zu meinem Schrecken ½10. Gotteswillen, wenn jetzt die Briefe zu spät eingeworfen wurden. Ein rasendes zwei Minuten langes Turnen, wie vielleicht schon einmal erklärt, bei ganz offenem Fenster, dann Anziehen und auf die Bahn. Unten vor dem Haus, es wird jetzt in unserer etwas verlassenen Gegend schon um 9 Uhr gesperrt, glückte es mir noch durch rasches Einbiegen, einer Begegnung mit meiner Familie auszuweichen, die eben nachhause ging, und nun flog ich auf die Bahn. Ich habe jetzt neue Stiefel und trample entsetzlich durch die leeren Gassen. Hoffentlich kommen die Briefe wenigstens rechtzeitig an. Dann nach sofortiger Rückkehr war wie immer mein Nachtmahl, meine jüngste Schwester sitzt dabei, knackt die Nüsse, ißt selbst mehr als sie mir gibt und wir unterhalten uns meistens ausgezeichnet. Das ist das Nachtmahl, aber es gibt dann Zeiten, wo die liebste Schwester nicht genügt und ich ihr nicht genüge.

Franz


Sonntag nachts: Nacht von Sonntag, den 24., auf Montag, den 25. November 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at