Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
23. XI. 12
Liebste, mein Gott, wie lieb ich Dich! Es ist sehr spät in der Nacht, ich habe meine kleine Geschichte weggelegt, an der ich allerdings schon zwei Abende gar nichts gearbeitet habe und die sich in der Stille zu einer größern Geschichte auszuwachsen beginnt. Zum Lesen sie Dir geben, wie soll ich das? selbst wenn sie schon fertig wäre? Sie ist recht unleserlich geschrieben und selbst wenn das kein Hindernis wäre, denn ich habe Dich gewiß bisher durch schöne Schrift nicht verwöhnt, so will ich Dir auch nichts zum Lesen schicken. Vorlesen will ich Dir. Ja, das wäre schön, diese Geschichte Dir vorzulesen und dabei gezwungen zu sein, Deine Hand zu halten, denn die Geschichte ist ein wenig fürchterlich. Sie heißt "Verwandlung", sie würde Dir tüchtig Angst machen und Du würdest vielleicht für die ganze Geschichte danken, denn Angst ist es ja, die ich Dir mit meinen Briefen leider täglich machen muß. Liebste, fangen wir mit diesem bessern Briefpapier auch ein besseres Leben an. Ich habe mich gerade dabei ertappt, dass ich beim Schreiben des vorigen Satzes ganz gerade in die Höhe sah, als wärest Du in der Höhe. Wärest Du doch nicht in der Höhe, wie es leider wirklich ist, sondern da bei mir in der Tiefe. Es ist aber tatsächlich eine Tiefe, täusche Dich darüber nicht, je ruhiger wir einander von jetzt an schreiben werden - Gott möge uns das endlich schenken - desto deutlicher wirst Du das sehn. Wenn Du aber dann trotzdem bei mir bliebest! Nun vielleicht ist es die Bestimmung der Ruhe und der Kraft, dort zu bleiben, wo die traurige Unruhe und Schwäche bittet.Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |