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[An Felice Bauer]
[Prag, 23. November 1912; Samstag]

23. XI. 12

Liebste, mein Gott, wie lieb ich Dich! Es ist sehr spät in der Nacht, ich habe meine kleine Geschichte weggelegt, an der ich allerdings schon zwei Abende gar nichts gearbeitet habe und die sich in der Stille zu einer größern Geschichte auszuwachsen beginnt. Zum Lesen sie Dir geben, wie soll ich das? selbst wenn sie schon fertig wäre? Sie ist recht unleserlich geschrieben und selbst wenn das kein Hindernis wäre, denn ich habe Dich gewiß bisher durch schöne Schrift nicht verwöhnt, so will ich Dir auch nichts zum Lesen schicken. Vorlesen will ich Dir. Ja, das wäre schön, diese Geschichte Dir vorzulesen und dabei gezwungen zu sein, Deine Hand zu halten, denn die Geschichte ist ein wenig fürchterlich. Sie heißt "Verwandlung", sie würde Dir tüchtig Angst machen und Du würdest vielleicht für die ganze Geschichte danken, denn Angst ist es ja, die ich Dir mit meinen Briefen leider täglich machen muß. Liebste, fangen wir mit diesem bessern Briefpapier auch ein besseres Leben an. Ich habe mich gerade dabei ertappt, dass ich beim Schreiben des vorigen Satzes ganz gerade in die Höhe sah, als wärest Du in der Höhe. Wärest Du doch nicht in der Höhe, wie es leider wirklich ist, sondern da bei mir in der Tiefe. Es ist aber tatsächlich eine Tiefe, täusche Dich darüber nicht, je ruhiger wir einander von jetzt an schreiben werden - Gott möge uns das endlich schenken - desto deutlicher wirst Du das sehn. Wenn Du aber dann trotzdem bei mir bliebest! Nun vielleicht ist es die Bestimmung der Ruhe und der Kraft, dort zu bleiben, wo die traurige Unruhe und Schwäche bittet.
Ich bin zu trübe jetzt und hätte Dir vielleicht gar nicht schreiben sollen. Dem Helden meiner kleinen Geschichte ist es aber auch heute gar zu schlecht gegangen und dabei ist es nur die letzte Staffel seines jetzt dauernd werdenden Unglücks. Wie soll ich da besonders lustig sein! Aber wenn mein Brief nur ein Beispiel dafür sein sollte, dass auch Du nicht den geringsten Zettel, den Du einmal für mich geschrieben hast, zerreißen sollst, dann ist es doch ein guter und wichtiger Brief. Glaube übrigens nicht, dass ich immer gar so traurig bin, das bin ich doch nicht, bis auf einen Punkt habe ich mich wenigstens bis aufs Äußerste in keiner Hinsicht zu beklagen und alles bis auf jenen einen ausnahmslos schwarzen Punkt kann ja noch gut und schön und mit Deiner Güte herrlich werden. Sonntag will ich mich darüber, wenn die Zeit und die Fähigkeit da sein sollte, ordentlich vor Dir ergießen und Du magst dann die Hände im Schoß die große Bescherung ansehn. Liebste, jetzt geht es aber ins Bett, möchte Dir ein schöner Sonntag beschieden sein und mir ein paar Deiner Gedanken.

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at