Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Felice Bauer]
[Prag, 22. November 1912; Freitag]

22. XI. 12

Liebste! ich habe keine Zeit, Dich wegen des Leides um Verzeihung zu bitten, das ich Dir Donnerstag verursacht habe und das sich in Deinem heutigen Briefe so zeigt, dass selbst ein verblendeter Narr sich dessen erbarmen müßte. Ich aber nicht, ich sündige weiter und was ich tue verwandelt sich in eine Feindseligkeit gegen Dich, während ich doch wiederum in der andern Wirklichkeit mich für Dich hinwerfen wollte, so als wäre ich seit jeher nur Deinetwegen auf der Welt. Nicht genug daran auch, dass ich Deinen Brief in meiner Tasche lasse, dass ihn meine Mutter liest und Dir schreibt. Es wäre doch eine Schuld gewesen, mit der ich mich hätte endlich zufriedengeben können. Aber ein Schuldiger dreht sich immer mehr in seine Schuld hinein. Gestern in Maxens Nähe schien mir die Sache schlimm, doch erträglich; ich versprach ihm, wenn ich es nicht gar beschworen habe, dass ich meiner Mutter nichts sagen werde. Und selbst wenn ich es nicht beschworen hätte, aus Rücksicht für Dich wäre es selbstverständlich gewesen. Aber wie bringe ich die Ruhe für Rücksichten auf, selbst für das Liebste. Schon als ich von Max weg einen kleinen Spaziergang machte, fing es in mir zu kochen an, ich hatte den Kopf voll von Wut wie von Dampf und als ich nachhause kam, war ich überzeugt, wenn ich nicht meine Meinung ausspräche, niemals ein Wort mehr zur Mutter sagen zu können. Es waren Gäste da, der Bräutigam und einer seiner Freunde. Ich ging schnurgerade in mein Zimmer in der genauen Voraussicht, es dort nicht aushalten zu können, ich staunte, dass die Wohnung zusammenhielt, so gespannt war alles in mir. Im Vorzimmer begann die Mutter in irgendeiner Ahnung ab- und auf zu schlürfen. Wir kamen eben zusammen, wie es nicht anders möglich war und ich sagte ihr, was ich dachte, sagte es ihr in einem fast gänzlich unbeherrschten Ausbruch. Ich bin überzeugt, es war für uns beide gut, für die Mutter und mich, ich wüßte nicht, dass ich jemals in meinem Leben so freundschatlich mit ihr gesprochen hätte wie nachher. So viel Kälte oder falsche Freundlichkeit, wie ich sie seit jeher meinen Eltern entgegenbringen mußte, (durch meine Schuld und durch die ihre) habe ich in keiner andern verwandten oder bekannten Familie beobachten können. Ich sehe der Mutter trotz ihrer Sorge das Glück an, das sie über unser gegenwärtiges Verhältnis nach dem gestrigen schlimmen Abend fühlt. Hier warst Du gewiß ein guter Engel wie für mich überall. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Ich hätte um Deinetwillen meiner Mutter nichts sagen dürfen und habe es doch getan. Liebste, wirst Du mir auch das noch verzeihen können? Ich werde Dir gegenüber bald so viel Schuld auf mich geladen haben, dass mich um dessentwillen schon auch menschliche Richter für Deinen Schuldknecht ansehn werden, der ich vor den höhern Richtern längst schon bin.
Habe ich noch ein Recht, den Versöhnungskuß anzunehmen, den Du mir am Schlusse Deines Briefes gibst, zumal es dann ein Kuß würde, der weder Deinem noch meinem Brief erlauben würde, je zu schließen.

Franz


Bräutigam: Josef Pollak, der Bräutigem von Kafkas Schwester Valli.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at