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[An Felice Bauer]
[Prag, 21. November 1912; Donnerstag]

21. XI. 12

Liebste, es ist ein Glück, dass ich Dir nicht vor 2 Stunden geschrieben habe, sonst hätte ich über meine Mutter Dinge geschrieben, wegen deren Du mich hättest hassen müssen. Jetzt bin ich ruhiger und darf Dir mit besserer Zuversicht schreiben. Gut sieht es noch in mir nicht aus, aber es wird schon werden und was nicht von selbst würde, wird es aus Liebe zu Dir. Meine Schuld daran, dass die Mutter einen Deiner Briefe lesen konnte, ist unverzeihlich und prügelnswert. Ich schrieb Dir wohl schon, dass ich die Gewohnheit habe, Deine Briefe bei mir zu tragen, es ging eine Stärkung von ihnen dauernd in mich über, ich ging als besserer, tüchtigerer Mensch herum. Natürlich trage ich jetzt nicht alle Briefe bei mir herum wie in jenen ersten, armseligen Zeiten, aber den letzten oder die zwei letzten noch immerhin. Das hat das Unglück verschuldet. Ich trage zuhause einen andern Rock und hänge den Rock des Straßenanzuges an den Kleiderrechen in meinem Zimmer. Die Mutter ging durch mein Zimmer als ich gerade nicht darin war - mein Zimmer ist ein Durchgangszimmer oder besser eine Verbindungsstraße zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer der Eltern - sah den Brief aus der Brusttasche schimmern, zog ihn mit der Zudringlichkeit der Liebe heraus, las ihn und schrieb Dir. Ihre Liebe zu mir ist gerade so groß, wie ihr Unverstand mir gegenüber, und die Rücksichtslosigkeit, die aus diesem Unverstand in ihre Liebe übergeht, ist womöglich noch größer und für mich zeitweilig ganz unfaßbar.
Ich nahm Deine heutigen Briefe als ein Ganzes und Deine Ratschläge betreffend das Essen und den Schlaf verblüfften mich nicht besonders, was sie doch eigentlich hätten tun müssen, da ich Dir doch schon geschrieben hatte, wie froh ich bin, die gegenwärtige Lebensweise gefunden zu haben, welche die einzige halbwegs befriedigende Lösung der Widersprüche ist, in denen ich leben muß. Als mir aber Max heute eine auch nur ganz zarte Andeutung machte wegen der Aufbewahrung von Briefen und wie seine Sachen vor den Eltern niemals sicher sind - seines Vaters Suchen und Forschen in allen Zimmerecken ist mir geradezu schon aus der Anschauung bekannt - da liefen mir mit diesen Bemerkungen alle zugehörigen Bemerkungen aus Deinen heutigen Briefen zusammen, denn Deine Briefe waren mir wie immer so auch diesmal so gegenwärtig wie der Gesichtsausdruck des Menschen, mit dem ich spreche - und ich wußte bald nicht alles zwar, aber genug, um Max zu zwingen, alles zu sagen.
Um Verzeihung kann ich Dich nicht bitten, denn wie könntest selbst Du Gütigste dieses verzeihn. Diese Schuld behalte ich schon und werde sie mit mir herumtragen. Alles war schon so gut, ich freute mich schon, das Glück, das Du für mich bist, in Ruhe genießen zu können, ich sah schon in Deiner Bemerkung über die Weihnachtsferien eine unendliche Hoffnung, an die ich mich im heutigen Morgenbrief im Schmutz des Bureaus gar nicht zu rühren getraute und - da läuft mir die Mutter wieder in die Quere. Ich habe die Eltern immer als Verfolger gefühlt, bis vor einem Jahr vielleicht war ich gegen sie wie vielleicht gegen die ganze Welt gleichgültig wie irgendeine leblose Sache, aber es war nur unterdrückte Angst, Sorge und Traurigkeit wie ich jetzt sehe. Nichts wollen die Eltern als einen zu sich hinunterziehn, in die alten Zeiten, aus denen man aufatmend aufsteigen möchte, aus Liebe wollen sie es natürlich, aber das ist ja das Entsetzliche. Ich höre auf, das Ende der Seite ist eine Mahnung, es würde zu wild werden.

Dein, Dein, Dein

[Auf einem beigelegten Blatt]

21. XI. 12

Ich lege eine Photographie von mir bei, ich war vielleicht 5 Jahre alt, das böse Gesicht war damals Spaß, jetzt halte ich es für geheimen Ernst. Du mußt sie mir aber wieder zurückschicken, sie gehört meinen Eltern, die eben alles haben und in alles greifen wollen. (Gerade heute mußte ich Dir über Deine Mutter schreiben!) Bis Du mir sie zurückschickst, schicke ich Dir noch andere und schließlich eine schlechte, nichtsnutzige gegenwärtige, die Du behalten kannst, wenn Du willst. Fünf Jahre war ich wohl auf dieser Photographie noch nicht alt, vielleicht eher 2, aber das wirst Du als Kinderfreundin besser beurteilen können als ich, der ich vor Kindern lieber die Augen zumache.

Franz

Um Deine Photographie Dich zu bitten oder um das Borgen einer Photographie Dich zu bitten, wäre natürlich jetzt gerade der ungeeigneteste Augenblick. Ich bemerke das bloß.


alles zu sagen: Vgl. Brief Max Brods an Felice Bauer vom 22. November 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at