Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Felice Bauer]
[Prag, 21. November 1912; Donnerstag]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

Liebste! armes Kind! Du hast einen kläglichen und äußerst unbequemen Liebhaber. Bekommt er zwei Tage lang keinen Brief von Dir, schlägt er wenn auch nur mit Worten besinnungslos um sich und kann es im Augenblick nicht fassen, dass er Dir damit weh tut. Aber nachher allerdings packt ihn die Reue und Du brauchst nicht besorgt zu sein, dass Deine durch ihn veranlaßte Unruhe nicht an ihm gerächt würde bis auf das kleinste Zucken Deines Mundes. Liebste, nach Deinen zwei heutigen Briefen scheinst Du mich noch ein Weilchen dulden zu wollen, bitte, bitte, ändere Deine Meinung auch nach meinem gestrigen Briefe nicht. Ich werde Dich übrigens heute noch wahrscheinlich telegraphisch um Verzeihung bitten.
Aber begreife nur meine Sorge um Dich, die schreckliche Ungeduld, das Brennen des einen Gedankens in meinem Kopf, die Unfähigkeit, auch nur das Geringste damit nicht Zusammenhängende auszuführen, dieses Leben im Bureau, die Blicke immerfort auf die Tür gerichtet, hinter den geschlossenen Augen im Bett die unerträglichen Vorstellungen, das Schlafwandeln und gleichgültige Stolpern auf den Gassen, das Herz, das nicht mehr klopft, sondern nur eine zerrende Muskel ist, das halbzerstörte Schreiben - begreife das alles und sei nicht böse. Jetzt habe ich ja die Erklärung für Dein Nichtschreiben, aber höre nur: Montag bekam ich keinen einzigen Brief, der Brief, der Deiner Meinung nach Montag hätte kommen sollen, müßte Samstag abend eingeworfen worden sein, also dieser Brief ist jedenfalls verlorengegangen, ich bekam nur am Sonntag Deinen Samstagvormittagbrief; was stand nur in diesem Samstagabendbrief, schreib es mir, wenn Du es noch weißt, damit ich mir wenigstens in der Erinnerung den schlimmen Montag versüße. Nun hatte ich also Montag keinen Brief, Dienstag nur den Sonntagbrief und den mit Gewalt erpreßten Eilbrief, aber Mittwoch war nun wieder kein Brief da. Das war für mich schon wirklich zu arg und ich schrieb den gestrigen Brief, um nur einen kleinen Teil dieser mich sprengenden Gefühle loszuwerden. Bedenke, dass es für mich wirklich keine andere Erklärung gab, als dass Du entweder kraft eines mich verfolgenden Fluches aus eigenem Willen Schluß machen wolltest oder aber, was das gleiche war, dass Deine Mutter Dir verboten hatte zu schreiben, diese Mutter, die, ich erinnere mich noch genau, in Deinen ersten Briefen mir in so freundlichem Lichte erschien, als sie Dir vom Balkon nachwinkte, als sie über Dein geringes Frühstück klagte, als sie Dich telephonisch nachhause rief, da Du zu lang im Bureau bliebst und die für mich allmählich immer düsterer wurde, als sie Handarbeiten zum Geburtstag verlangte, als sie Deine Bureauarbeit nicht richtig einschätzte, als sie Dich zu Deiner Meinung nach überflüssigen Besuchen zwang, als sie Dir einen "Totenschreck" verursachte als sie abends ins Zimmer trat, während Du im Bette schriebst, und einiges andere noch. Und so verbiß ich mich in diese zwei einzigen Erklärungen, konnte davon nicht loskommen und schrieb also jenen Brief. Jetzt sehe ich, dass zweifellos der Berliner Feiertag, den ich allerdings vom Kalender hätte nur ablesen brauchen, daran schuld war, dass ich Deinen Dienstagbrief erst heute Donnerstag bekam. Ist also wieder einmal alles durch mich Verschuldete durch Deine Güte wieder gutgemacht und darf ich in einem Kuß diese Tage und alles Traurige vergessen?
Es scheint mir aber auch fast, dass irgendeiner meiner Briefe verlorengegangen sein muß. Ich habe Dir seit Freitag meiner beiläufigen Rechnung nach gewiß 14 oder 15 Briefe geschrieben und Du solltest am Dienstag nur einen Brief bekommen haben? Um eine Stichprobe zu machen, schreibe mir, ob Du die Briefe, denen ich etwas beilegte und an die ich mich deshalb bestimmt erinnere, erhalten hast. Einem Brief lag ein alter Brief bei, der zu seiner Zeit nicht weggeschickt wurde und mit der komischen Ansprache aus unvordenklicher Zeit "Gnädiges Fräulein" begann, dem zweiten Brief lag ein gedruckter Zettel bei mit der Beschreibung des Lärms in meiner Wohnung.
Ja, die Strindbergcitate habe ich wohl gelesen und verstehe gar nicht, dass ich Dir darüber nicht geschrieben haben sollte. Es sind schreckliche Wahrheiten und es ist bewunderungswert, sie so frei ausgesprochen zu haben, aber es gibt Zeiten, wo man fürchtet, noch schrecklichere Wahrheiten in sich rumoren zu fühlen. Groß ist die Wahrheit dessen, dass man sich ganz anders behütet, wenn man liebt, man geht vielen Gedanken aus dem Wege, will viele Worte nicht hören, und manches, das man in Zerstreutheit früher aufnahm, empfindet man als ein Bohren. Nur leichtere Diät kann man fast unmöglich einführen und Wein ersetzt man durch Fruchtsäfte, wenn man überhaupt trinkt, was man nur selten tut.
Ich esse dreimal im Tag, in der Zwischenzeit gar nichts, aber nicht das Geringste. Früh Kompott, Cakes und Milch. Um ½3 aus Kindesliebe so wie die andern, nur im ganzen etwas weniger als die andern und im einzelnen noch weniger Fleisch als wenig und mehr Gemüse. Abend um ½10 im Winter Joghurt, Simonsbrot, Butter, Nüsse aller Art, Kastanien, Datteln, Feigen, Trauben, Mandeln, Rosinen, Kürbisse, Bananen, Äpfel, Birnen, Orangen. Alles wird natürlich in Auswahl gegessen und nicht etwa durcheinander wie aus einem Füllhorn in mich hineingeworfen. Es gibt kein Essen, das für mich anregender wäre als dieses. Bestehe nicht auf den überflüssigen 3 Bissen, sieh, alles ist zu Deinem Wohl gegessen und diese 3 Bissen wären zu meinem Wehe.
Wegen Deiner Briefe habe keine Sorge, sie sind das einzige, was innerhalb der ungeheueren Unordnung meines Schreibtisches geordnet und abgesperrt ist, und sooft ich sie herausnehme - es geschieht wahrhaftig nicht selten - werden sie wieder geordnet zurückgelegt. - Gott, ich habe Dir so vieles noch zu sagen und zu antworten und es ist wieder Schluß und überdies schon 3 Uhr. Also morgen das andere. Ja, wenn Du Samstag früh den Brief einwirfst, habe ich ihn Sonntag und der Sonntag wird einigemal schöner als sonst.

Franz

[Nachschrift über dem Briefkopf]
Ich telegraphiere doch lieber nicht. Es würde Dich unnütz erschrecken. Die 4 Briefe, die Du heute bekommen haben mußt, gleichen sich wohl im Guten und Bösen aus. - Bist Du als Humor aufgetreten? Gibt es ein Bild davon? Über mein Bild morgen.


Berliner Feiertag: Buß- und Bettag.
Freitag: 8. November 1912.
Einem Brief: Brief vom 16. November 1912
zweiten Brief: Brief vom 11. November 1912.
3 Uhr: 3 Uhr nachmittags.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at