Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Felice Bauer]
[Prag, vermutlich Nacht vom 20. November zum 21. November 1912; Donnerstag]

Liebste, meine Liebste, es ist ½2 in der Nacht. Habe ich Dich mit meinem Vormittagsbrief gekränkt? Was weiß denn ich von den Verpflichtungen, die Du gegen Deine Verwandten und Bekannten hast! Du plagst Dich und ich plage Dich mit Vorwürfen wegen deiner Plage. Bitte, Liebste, verzeihe mir! Schicke mir eine Rose zum Zeichen, dass Du mir verzeihst. Ich bin nicht eigentlich müde, aber dumpf und schwer, ich finde nicht die richtigen Worte. Ich kann nur sagen, bleib bei mir und verlaß mich nicht. Und wenn irgendeiner meiner Feinde aus mir heraus Dir solche Briefe schreibt, wie es der heutige vom Vormittag war, dann glaube ihm nicht, sondern schau durch ihn hindurch in mein Herz. Es ist ja ein so schlimmes, schweres Leben, wie kann man auch einen Menschen mit bloßen geschriebenen Worten halten wollen, zum Halten sind die Hände da. Aber in dieser Hand habe ich die Deine, die ich zum Leben unbedingt nötig habe, nur drei Augenblicke lang halten dürfen, als ich ins Zimmer trat, als Du mir die Reise nach Palästina versprachst und als ich Narr Dich in den Aufzug steigen ließ.
Darf ich Dich also küssen? Aber auf diesem kläglichen Papier? Ebensogut könnte ich das Fenster aufreißen und die Nachtluft küssen.
Liebste, sei mir nicht böse! Ich verlange von Dir nichts anderes.

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at