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[An Felice Bauer]
[Prag, 18. November 1912; Montag]

18. XI. 12

Liebste, dieses Telegramm habe ich mir verdient! Du warst gewiß Samstag unbedingt verhindert zu schreiben und an und für sich hatte ich ja auch keinen Anspruch, heute einen Brief zu bekommen, diese unglückseligen Sonntage fangen auch schon an, ein regelmäßiges Unglück unseres Verkehrs zu werden - nun war ich aber von dem langen frühen Warten ein wenig außer Rand und Band, der gestrige Brief hatte mich nicht ganz gesättigt, besonders da er von Deinem leidenden Zustand handelte, nun versprachst Du mir aber mit einer Bestimmtheit, wie kaum je vorher für Montag einen oder zwei Briefe und es kam keiner, ich ging im Bureau ganz wirr herum, hundertmal stieß ich ein Buch weg, in dem ich etwas lesen sollte (Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes, dass Du es weißt) hundertmal zog ich es nutzlos wieder näher, ein Ingenieur, mit dem ich wegen einer Ausstellung zu verhandeln hatte, hielt mich zweifellos für blödsinnig, denn ich stand da und dachte an nichts anderes, als dass gerade die Zeit der zweiten Post da sei, ja dass sie sogar schon vorbeizugehn drohe, und in meiner Verlorenheit sah ich immerfort und aufdringlich den kleinen, etwas verkrümmten Finger dieses Ingenieurs an, also gerade das, was ich nicht hätte ansehn sollen - Liebste! ich will nicht weiter erzählen, es würde ärger und ärger und schließlich selbst zum Lesen unerträglich. Und selbst das Telegraphieren hat sich nicht bewährt, wie ich dachte. Ich gab das Telegramm als ein dringendes um ½3 Uhr auf und erst um 11¼ in der Nacht kam die Antwort, also nach 9 Stunden, eine einmalige Fahrt nach Berlin dauert nicht so lang und man nähert sich dabei doch Berlin unzweifelhaft, während für mich die Hoffnung Antwort zu bekommen, immer kleiner wurde. Aber endlich das Läuten! Briefträger! Mensch! Und was für ein freundliches, glückliches Gesicht er hatte. Es konnte nichts Schlimmes im Telegramm stehn. Natürlich nicht, es war nur Liebes und Gutes darin und so schaut es mich auch jetzt noch an, da es aufgeschlagen vor mir liegt. Liebste, wo nimmt man die Kraft her und wie bewahrt man sich das Bewußtsein, wenn man aus diesem wahnsinnigen Leid in das Glück hinauffliegt?
Gerade setzte ich mich zu meiner gestrigen Geschichte mit einem unbegrenzten Verlangen, mich in sie auszugießen, deutlich von aller Trostlosigkeit aufgestachelt. Von so vielem bedrängt, über Dich in Ungewissem, gänzlich unfähig, mit dem Bureau auszukommen, angesichts dieses seit einem Tag stillstehenden Romans mit einem wilden Wunsch, die neue, gleichfalls mahnende Geschichte fortzusetzen, seit einigen Tagen und Nächten bedenklich nahe an vollständiger Schlaflosigkeit und noch einiges weniger Wichtige, aber doch Störende und Aufregende im Kopf - kurz, als ich heute meinen jetzt schon nur halbstündigen Spaziergang am Abend machte (immer natürlich nach Telegrammboten ausschauend, einen traf ich auch, aber weit, weit von meiner Wohnung) war ich fest entschlossen, zu meiner einzigen Rettung an einen Mann nach Schlesien zu schreiben, mit dem ich mich heuer im Sommer recht gut befreundet hatte und der mich in ganzen, langen Nachmittagen zu Jesus hatte bekehren wollen. - Nun ist aber das Telegramm hier und wir lassen jenen Brief noch ein Weilchen, Du liebste Versuchung! Jetzt weiß ich nur nicht, soll ich dem Telegramm zu Ehren die Geschichte schreiben oder schlafen gehn. - Und kein Wort der Abbitte für die Sorgen und Unannehmlichkeiten, die ich Dir mit dem Telegramm gemacht habe.

Franz


Mann: Diesen Landvermesser, einen Herrn Hitzer aus Schlesien, hatte Kafka im Juli 1912 während seines Urlaubs- und Kuraufenthaltes in Jungborn (Harz) kennengelernt. Vgl. Tagebücher (14.Juli 1912).

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at